Buchkritik -- Karl-Josef Durwen -- Im Spiegel der Möglichkeiten

Umschlagfoto  -- Karl-Josef Durwen  --  Im Spiegel der Möglichkeiten In einer Zeit, welche die Mittelmäßigkeit zu ihrer prägenden Erscheinung gewählt hat, in der gedankenlose Sucht nach Spaß vorherrscht, in der es aus der Mode gekommen zu sein scheint, über sich selber und seine Stellung in der Welt zu reflektieren und in der es geradezu verpönt ist, auf die leisen Töne zu hören, in dieser Zeit schreibt, ja wagt geradezu ein Autor etwas, was man getrost als einen Leitfaden durch die Irrungen und Wirrungen der Philosophie bezeichnen kann. Ist dieser Mensch denn von allen guten Geistern verlassen?

Weiß er denn nicht, daß heute alles, was den Umfang von wenigen Sätzen übersteigt, für die meisten Menschen Zeitverschwendung bedeutet, daß allenfalls die Lektüre von witzigen Schlagzeilen und der monatliche Kontoauszug ohne Murren auf sich genommen wird? Nein, er weiß es nicht und er tut verdammt gut daran. Wer den Roman Im Spiegel der Möglichkeiten von Karl-Josef Durwen zur Hand nimmt, der läßt sich auf ein nicht geringes Abenteuer ein. Die grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz, wer bin ich?, wo gehe ich hin?, wo ist der Sinn von alledem?, wo ist mein Platz in diesem Universum?, werden in diesem witzig und klug komponierten Roman mit Hilfe der "Großen" der Philosophiegeschichte abgehandelt.

Zwei junge Mädchen 14 und 16 Jahre alt, werden durch eine mysteriöse Internetseite in einen Strudel von Ereignissen gezogen, denen sie sich nicht mehr entziehen können. Was zuerst den Eindruck eines raffinierten Computerspiels macht, das läßt für beide bald die Grenzen von Wirklichkeit und Illusion verwischen. Die Neugier ist geweckt, doch schnell auch das Entsetzen, denn die sie umgebende Realität erweist sich als trügerisch. Sie begegnen ihren virtuellen Doppelgängern in der Philosophenschule von Ureda und schnell taucht die Frage nach Authentizität auf. Sind sie real, oder sind es ihre Doppelgängerinnen? Was ist das, die Wirklichkeit? Schaffen wir sie uns selber, oder werden wir von ihr geschaffen?

Dem Autor gelingt es sehr schnell, den Leser in die Tücken und Fallstricke dessen zu führen, was wir gemeinhin als Realität bezeichnen. Mit Hilfe von spannenden und witzigen Dialogen werden nicht nur die vier Mädchen, real oder virtuell?, virtuell oder real?, zu einem neuen Bewußtsein ihrer selbst gebracht. Die Trennung von Subjekt und Objekt, die so viele von den Problemen unserer Zeit verschuldet hat, wird hier aufgehoben und eine neue, ganzheitliche Sicht der Dinge vorgeschlagen.

Nicht umsonst sind die Hauptfiguren bis auf Wendur, den geduldigen philosophischen Lehrer, weiblich. Nicht umsonst sind die "Heldinnen" in einem Alter, in dem genau diese Fragen gestellt werden, die jedoch in der Regel leider von niemandem gehört oder beantwortet werden. Ist es doch das Weibliche, welches als erstes Veränderungen erspürt. Als Mutter die unausgesprochenen Veränderungen ihres Kindes, als Frau und Freundin des Mannes die zwischenmenschlichen Töne des intergeschlechtlich Transzendenten.

Es ist ein Roman für einen Wendepunkt des Lebens. Nicht mehr Kind und noch nicht erwachsen. Fragen zur eigenen Existenz liegen brennend auf der Seele und warten sehnsüchtig auf Antwort. Wohl denjenigen, die einen weisen Lehrer haben. Einem Lehrer, dem es gelingt die Verwobenheit des Menschen in die Welt und das Universum zu vermittelen. Der das Wagnis unternimmt, die Trennung des Menschen von seiner Umwelt und von seinen Mitmenschen aufzuheben und den Zusammenhang alles Lebendigen zu lehren.

Es ist diese Verwobenheit mit dem Sein, welche die fern-östliche Philosophie der griechisch-europäischen voraus hat. Für die Trennung in Subjekt und Objekt, die Spaltung in Ich und Gegenüber, in Natur und Mensch, in Geist und Körper ist dort kein Platz, ist doch alles miteinander verwoben und das Eine ohne das Andere nicht denkbar.

Der Titel des Romans ist Programm. Der Spiegel steht für die Möglichkeit dessen, was sein kann. Kongruent oder seitenverkehrt, vorwärts oder rückwärts, positiv oder negativ. Das Dasein nicht als Fixpunkt der Determination betrachtend, sondern als Möglichkeit auf dem Pfeil der Zeit. Die Gegenwart als Chance der Geschichte und die Zukunft als Klaviatur, deren richtigen Ton zu treffen uns die offenen Möglichkeiten nicht nur gestatten, sondern geradezu fordern.

Dieser Roman von Karl-Josef Durwen wäre als Pflichtlektüre in der Oberstufe wahrlich nicht fehl am Platz. Vereint er doch Exkurse von Augustinus bis zur Quantentheorie, von Aritoteles zu Hans Jonas, von Platon zu Hegel und viele weitere spannende mehr. Er weckt die Neugier und die Lust sich, im philosophischen Sinn, mit sich selber zu beschäftigen. Herauskommen wird in jedem Fall eine neue Möglichkeit.

P. S.
Übrigens, wer diese mysteriöse Internetseite sucht, um sich selber in diese Abenteuer stürzen zu können, der sollte http://www.ureda.de anklicken.




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