Buchkritik -- Juan Gómez Bárcena -- Der Himmel von Lima

Umschlagfoto, Buchkritik, Juan Gómez Bárcena, Der Himmel von Lima, InKulturA José Gálvez und Carlos Rodríguez, zwei Jünglinge aus der peruanischen Oberschicht mit künstlerischen Ambitionen. Während José aus einer Familie stammt, die auf eine berühmte Ahnenreihe und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Verflechtungen verweisen kann, ist die seines Freundes durch die Kautschukgewinnung seines Vaters zu Reichtum gelangt. Beide streben nach Höherem und bemühen sich, anerkannte Dichter zu werden.

Allein es fehlt ihnen an Talent, was sie jedoch nicht hindert, im Kreis ihrer Freunde als feingeistige Snobs zu reüssieren. Ihr literarisches Vorbild ist der spanische Dichter Juan Ramón Jiménez, dessen aktuelles Werk sie versuchen, gratis zu erhalten. Da sie sich diesbezüglich nicht in die Schar der erfolglosen Bittsteller einreihen wollen, beginnen sie einen Briefwechsel, zu dessen Zweck sie eine junge und schöne Frau, Georgina Hübner, erfinden, die fortan Kontakt mit dem Spanier hält.

"Der Himmel von Lima" von Juan Gómez Bárcena ist eine augenzwinkernde Persiflage auf zwei begabungsfreie Literaten, denen es partout nicht gelingen will, ihre mittelmäßigen Zeilen einer desinteressierten Öffentlichkeit zu präsentieren. Die vornehme Gesellschaft Limas kreist im Jahr 1904 vornehmlich um sich selbst. Während die Alteingesessenen ihre gesellschaftliche Legitimation aus längst vergangenen Heldentaten ableiten, sind die Neureichen wie der Vater von Carlos darum bemüht, in die etablierten Kreise aufgenommen zu werden, die sich jedoch gegenüber den Kautschukbaronen mehr als reserviert verhalten.

So ist es ausschließlich das gemeinsam Ziel von José und Carlos endlich anerkannte Literaten zu werden, das die beiden aus den unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen zusammenführt. Die dichterische Frucht dieser Freundschaft wird die fiktive Figur Georgina Hübner, die, zumindest für Carlos, im Verlauf des Briefwechsels mit den spanischen Literaten mehr und mehr zu einer, in seiner Phantasie realen Person wird.

Doch die beiden schriftstellerischen Novizen benötigen vorerst die Hilfe eines Profis in Gestalt des Magister Cristóbal, der weniger die große Literatur vertritt, sondern denjenigen behilflich ist, die ihre Gedanken, aus Gründen des Mangels an Schreibfähigkeit oder anderen Handicaps, nicht selber formulieren können, oder, böse ausgedrückt, erst gar keine Gedanken haben, trotzdem aber mit den Behörden oder, was viel öfter der Fall ist, ihren Objekten der Begierde in Kontakt treten wollen oder müssen.

Die Angelegenheit erfährt eine dramatische Wendung, als José eigenmächtig und ohne Zustimmung von Carlos den Ton der Briefe verändert. Zweideutiges tritt an die Stelle von Carlos jungmädchenhafter Diktion und heizt die Phantasie des Dichters an - er kündigt sein Erscheinen in Lima an.

Juan Gómez Bárcena hat mit seinem preisgekrönten Roman - kongenial übersetzt von Steven Uhly - ein meisterhaftes Werk über die Macht der Literatur geschrieben. Wenn, wie im Fall von Carlos, Fiktion plötzlich Wahrheit zu werden scheint und eine Figur in der Vorstellung ihres Erschaffers zu einem Fluchtpunkt in seinem, vom Vater wegen seiner Neigung zur Poesie mit argem Misstrauen beobachtet, Leben wird, dann wird auf einmal die Grenze zwischen Realität und Literatur fließend.

Es ist aber auch ein Roman über die Gesellschaft Perus zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Während Europa auf eine Katastrophe zusteuert, lebt die Elite des südamerikanischen Staates ein sorgenfreies Leben, nicht zuletzt durch die Ausbeutung der indigenen Bevölkerung und dem Import überschüssigen osteuropäischen Menschenmaterials in Form von minderjährigen Prostituierten.

So hat der Vater von Carlos kein Problem mit der Tatsache, dass sich viele seiner Arbeiter zu Tode schuften oder von ihm massiv misshandelt werden, er sich jedoch José gegenüber mehr als servil verhält. Ob Alteingesessene oder neureiche Kautschukbarone, sie alle eint die Unterdrückung und Ausbeutung anderer Menschen.

Und so erweist sich zum Schluss auch die angebliche Liebe der beiden ungleichen Freunde zur Literatur als das, was sie in Wirklichkeit gewesen ist, eine Marotte zweier saturierter junger Männer, denen es an Kreativität und Phantasie für ein eigenes Werk fehlte. Beiden, José mehr als Carlos, steht ihr jeweiliger Status quo im Weg. Während der Alteingesessene sich um seine Zukunft, seine materielle Sicherheit und gesellschaftliche Position keine Gedanken machen muss, rettet sich Carlos, irgendwann resignierend durch die Kämpfe mit seinem Vater, in ein bürgerliches Leben. Als beide, sich lange Zeit aus den Augen verloren, nach Jahren zufällig wieder begegnen, ist das Ziel ihrer Jugend nur noch eine schwache Erinnerung, die sie jedoch mit ihrer letzten gemeinsamen Aktion ebenfalls verraten.

"Der Himmel von Lima" ist ein bitter-süßer Roman über die Vergänglichkeit von Freundschaft, über Macht und Ohnmacht von Literatur und das persönliche Scheitern und die letztendliche Anpassung an die Regeln der Gesellschaft.




Meine Bewertung:Bewertung

Veröffentlicht am 5. November 2016