Buchkritik -- Antonio Pennacchi -- Canale Mussolini

Umschlagfoto, Antonio Pennacchi, InKulturA Literatur, die sich mit der Zeit von 1933 und 1945 beschäftigt und deren handelnde Personen eingewoben sind in das Geflecht von Verbrechen und Schuld, kennt nur eine politisch korrekte Attitüde, nämlich die generelle Schuldzuweisung an die Adresse der Protagonisten. Es gibt Romane, die, würden sie von einem deutschsprachigen Autoren vorgelegt, zu den üblichen anerzogenen Bell- und Beißreflexen führen.

Antonio Pennacchi hat mit "Canale Mussolini" einen Familienroman veröffentlicht, der ein grandioses Panorama vom Aufstieg des italienischen Faschismus darstellt. Zugegeben, wer nicht in der Lage ist, sich von gewohnten Denk- und Sehgewohnheiten zu trennen, der wird an diesem Roman keine Freude haben, erzählt der Autor doch, angereichert durch einen autobiographischen Schreibstil, vom ganz normalen Leben unter der Diktatur Mussolinis.

Die Perruzis, eine arme Bauernfamilie aus dem Norden Italiens, ergreift ihre Chance, die sich durch das groß angelegte Projekt der Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe anbietet. Ja geht denn das überhaupt, fragt sich der politkorrekte und in seinen Vorurteilen verhaftete Leser. Da wagt es ein Autor, sich der herrschenden Meinung zu widersetzen und stellt den italienischen Faschismus als das vor, was er in den Augen vieler Menschen gewesen ist: Eine Möglichkeit zum persönlichen Aufstieg.

Die Familie Perruzi, hart arbeitende Bauern, aber auch durchaus nicht den sinnlichen Freuden des Lebens abgeneigt, die zahlreiche Nachkommenschaft beweist das, nutzt die sich ihr bietende Gelegenheit - und die flüchtige Bekanntschaft mit dem Duce - um ihre materielle Situation zu verbessern. Nachdem die Perruzis bereits mit den Sozialisten geliebäugelt hatten, entscheiden sie sich zuletzt doch für die Faschisten.

Dieser Entschluss ist weniger ideologisch als vielmehr pragmatisch motiviert. Die Perruzis schuften sich die Seele aus dem Leib und trotzdem reicht es vorne und hinten nicht. Das versprochene sozialistische Paradies gibt es nicht und zuletzt wird die Familie, die in Venetien Land gepachtet hatte, vom Eigentümer verjagt, da sie ihre Schulden nicht bezahlen konnte. Kurioserweise waren die Verbindlichkeiten der Perruzis gegenüber dem gräflichen Landbesitzer das Resultat sozialistischer Politik. Wen wundert es, dass die Männer der stolzen Sippe Perruzi in Folge dessen erst einmal alle sozialistischen Parteilokale niederbrennen?

Antonio Pennacchis Diktion ist kraftvoll und derb. Er schaut seinen Figuren aufs Maul und in ihr Herz. Herausgekommen ist Roman, der sich wie kaum ein anderer mit der individuellen Ebene des italienischen Faschismus beschäftigt. Da ist dann auch kein Platz für Ressentiments und Besserwissereien derjenigen, die diese Ära ausschließlich durch Schulbücher und soziologisch-historische Untersuchungen kennen.

Da tauchen die faschistischen Suppenküchen ebenso auf, wie die Solidaritätsvereine. Ohne Zweifel, der Autor erzählt auch davon, wie sehr sich die Menschen - auch und gerade die Perruzis - darüber im Klaren waren, wie viel sie dem diktatorischen System zu verdanken hatten. Ohne große politische Ambitionen zu haben, nimmt sich die Sippe der Perruzi das, was sich ihnen anbietet. Der Ich-Erzähler schildert und beschreibt, die Bewertung überlässt er seinem Leser.

Es ist die Erzählweise Pennacchis, die in den Bann zieht. Man ist mittendrin in der bäuerlichen Lebenswelt des faschistischen Italiens. Und doch, politisch ambitioniert sind die Perruzis nicht. Nie gewesen, obwohl die Männer des Familienclans immer ihre Pflicht für ihr Land erfüllt haben. In noch jeder militärischen Auseinandersetzung, im Abessinienkrieg, in Nordafrika und im Griechenlanddesaster, war immer ein Perruzi dabei.

Verharmlost Pennacchi den Faschismus? Mitnichten! Aber er zeigt dem Leser eine Welt, in der nicht so sehr das Primat des Politischen herrscht, sondern oftmals die Bemühungen überhaupt genug Essen für die große Familie auf den Tisch zu bringen. Da stellen sich die Perruzis eher die existenzielle Frage, ob die Ernte ertragreich ausfällt und weniger ob im fernen Rom Mussolini sich mit Italo Balbo anlegt oder gar Hitler zum Staatsbesuch erscheint.

"Canale Mussolini" ist kein Buch für diejenigen, die, um es salopp auszudrücken, sich auch heute noch berufen fühlen, Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu leisten. Deren Attitüde einer vermeintlichen Überlegenheit, die einzig der Tatsache der Nachgeborenenexistenz entspringt, wischt Antonio Pennacchi mit seinem prallen, lebensfrohen Roman hinweg.

Natürlich waren die Perruzis Mitläufer und Nutznießer des faschistischen Systems. Doch, Pennacchi erwähnt es in seinem herrlichen Kaleidoskop dieser stolzen Familie des Öfteren, man solle sich hüten, aus einer den damaligen Zeitgeist unterschätzenden Position zu werten.

Allein aus diesem Grund wäre solch ein Roman, wie ihn Antonio Pennacchi mit "Canale Mussolini" vorgelegt hat, im deutschen Literaturbetrieb undenkbar. Zu dominierend, zu rigide und zu festgefügt ist die öffentlich erlaubte literarische Auseinandersetzung bezüglich der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert.

Materielle Not, Hunger und eine ungewisse Zukunft - unter all dem litten die Perruzis - können große politische Katalysatoren werden. Aus diesem Grund wäre es gerade in Deutschland angesagt, sich dem Thema politischer Rattenfängerei etwas sensibler zu nähern und auf selbstgerechte und pauschale Verurteilungen zu verzichten. Das wird jedoch wohl auf lange Sicht ein Desiderat bleiben.

Leider ist dem fleißigen Lektorat ein grober Fehler unterlaufen. Nicht Papst Pius XI. ließ 1867 Monti und Tognetti hinrichten, sondern Papst Pius IX., dessen Pontifikat von 1846 bis 1878 währte.




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