Im Jahr 1907 schrieb Josef Conrad den Roman "Der Geheimagent". Er selber bezeichnete das Werk lediglich als "Eine kleine Geschichte". Dabei ist der Roman die Vorwegnahme des Scheitern des "Experiment Mensch". Veröffentlicht noch vor den großen Kriegen des Jahrhunderts, beschrieb er die Vereinsamung und die Pervertierung des Individuums. Der Mensch ist entgegen der Meinung des Aristoteles doch kein "zoon politikon", sondern ein dem Egoismus und der Selbstliebe verfallenes Wesen.
Hat sich in all den inzwischen vergangenen Jahrzehnten etwas verändert, vielleicht gar zum besseren?. Bei objektiver Betrachtung muß diese Frage leider verneint werden. Trotz zweier schrecklicher Weltkriege, trotz vielen aufflackernden Regionalkonflikten, trotz des daraus entstehenden Leids ist es der Menschheit nicht gelungen, auf dem von Philosophie und Religion geforderten ethischen Weg zu bleiben. Rücksichtslosigkeit und Habgier, Verblendung und Profitsucht führten zu einem Solipsismus, der nur das "Ich" zum Mittelpunkt hat. Alles andere hat seine Daseinsberechtigung ausschließlich in Bezug auf dieses "Ich".
Es ist der von Thomas Hobbes proklamierte Krieg aller gegen alle, es ist der Mensch des Menschen Feind geworden. Alle gut gemeinten, aber hilfslosen ethischen Bekundungen einzelner Gruppen oder Institutionen haben im gesamten Verlauf der Geschichte nicht gefruchtet. Dem Menschen war es nicht möglich, sich aus seinem Wahn vom Beherrscher der Welt zu befreien. Der Mensch hat sich diese Welt "untertan" gemacht, aber auf eine Weise, die der Auffassung der Bibel diametral entgegengesetzt ist. Ausbeutung statt pfleglicher Umgang mit den Ressourcen, bedenkenlose Umweltverschmutzung statt verantwortungsvoller Hinterlassenschaft an die uns nachfolgenden Generationen.
Die Verantwortung für die Welt, in der auch noch unsere Kinder leben sollen, wird negiert. Es ist diese unfaßbare Wiedersprüchlichkeit des Menschen. Fast jeder will Natur genießen, aber bitteschön doch nicht weiter als 10 Kilometer von der nächsten Autobahnabfahrt.
Conrad läßt uns in seinem Roman sehr genau in die Psyche des Menschen blicken. Jede Handlung, jedes Tun steht einzig und allein im Zusammenhang mit der eigenen Existenz. Getrieben von Eigendünkel und unsolidarischem Verhalten ist jeder ausschließlich auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Tiefe Kommunikation, mit dem Willen den Anderen zu verstehen, findet nicht meht statt. Verloren in der Großstadt, anonym bis zur Sprachlosigkeit, fristen die Existenzen ihr Leben. Emotionale Armut bestimmt den Tagesablauf.
Entfremdung findet unabhängig von Produktionsverhältnissen statt. Karl Marx war kein guter Psychologe und Menschenkenner, sonst wäre es ihm bewußt gewesen, wie die menschliche Psyche, losgelöst von wirtschaftlichen System, funktioniert. Die den Menschen bestimmenden Wesenszüge werden nicht von Ideologien geprägt, sondern sie sind in seiner Psyche bereits angelegt. Sigmund Freud und beinahe zeitgleich mit ihm, Friedrich Nietzsche, haben darauf hingewiesen, das der Mensch in einem viel größeren Ausmaß als bis dahin angenommen, von seinen Instinkten und Trieben geleitet, fast möchts man sagen getrieben wird. Freud ging gar so weit zu behaupten, das der Mensch nur unter großen Opfern, nämlich unter Aufgabe seiner ursprünglichen Triebe, dazu in der Lage sei, in einer Gemeinschaft zu leben.
Da sich jedoch die psychische Disposition des Menschen nicht auf Dauer verleugnen, oder unterdrücken läßt, werden seine Triebe trotz permanenter Sublimation immer wieder zutage treten. Gewalt in der Familie, Mobbing am Arbeitsplatz, tätliche Angriffe im Straßenverkehr bis hin zu Massakern wie sie die Welt wieder in Bosnien und Ruanda gesehen hat, sind die Ergebnisse dieser Triebausbrüche. Das Ausmaß und die Intensität der Gewalt ist unterschiedlich, der auslösende Faktor ist jedoch immer derselbe.
Auch wenn nur noch zwei Menschen auf der Welt existieren sollten, werden sie sich durch ihrem gegenseitigen Haß vernichten. Josef Conrad hatte recht, als er seinen Roman "Eine einfache Geschichte" nannte. Es ist die normale Schilderung der existenziellen Sinnlosigkeit, die von den meisten Menschen instinktiv wahrgenommen wird und deren einzige Antwort anscheinend in einem Solipsismus liegt, der füher oder später zur Selbstauslöschung der Spezies Mensch führen wird.