Buchkritik -- Kerstin Decker -- Die Schwester

Umschlagfoto, Buchkritik, Kerstin Decker, Die Schwester , InKulturA Ob, wie Kerstin Decker es am Schluss ihrer Biographie über Elisabeth Förster-Nietzsche schreibt, diese Frau "Durchschnitt" gewesen ist, mag der Leser vielleicht anders werten. Eines ist jedoch klar: die Schwester des "Umwerters aller Werte", des Philosophen, für den die Starken, die geistig Adligen und die Ausnahmemenschen die Wegbereiter der Zukunft darstellten, und der doch selber physisch eher von schwacher Konstitution war, ist das Enfant terrible der Philosophiegeschichte.

Fälscherin der Briefe ihres Bruders und ein, gelinde ausgedrückt, eigenwillig kompiliertes, von ihm nie so geschriebenes Buch, "Der Wille zur Macht", machten aus seiner Schwester eine Frau mit zweifelhafter Reputation. Für die Nachwelt vollends verdächtig wurde Elisabeth Förster-Nietzsche durch ihre Sympathie für den "Führer" und die Deklarierung des Weimarer Nietzsche-Archiv zum "Zentrum nationalsozialistischer Weltanschauung".

Elisabeth und Friedrich standen sich bereits als Kinder sehr nahe und kompensierten dadurch die fehlende Wärme der Mutter. "Lama", so nannte er sie, die bereit war, ihr Leben dem seinigen zu widmen. Zum Bruch kam es, als Nietzsche in Lou Andreas-Salomé glaubte die Frau gefunden zu haben, die ihn und seine Philosophie verstand und Elisabeth sich in die Affäre einmischte und Nietzsche, aber auch dessen Mutter von "Vorfällen" anlässlich der Festspiele in Bayreuth berichtete.

Es muss den Bruder, einem Anti-Antisemiten erschüttert haben, dass seine Schwester sich zur Ehe mit dem bekennenden Antisemiten Bernhard Förster entschloss und mit ihm in Paraguay die Kolonie "Nueva Germania" gründete. Es bedurfte nur weniger Jahre, um den Traum von einem neuen, wie die Autorin es nennt, "postkapitalistischen Gemeinwesen" platzen zu lassen – ausgerechnet durch pekuniären Mangel. Förster begeht Selbstmord, seine Ehefrau kehrt 1893 zurück nach Deutschland und beginnt nach dem geistigen Zusammenbruch des Bruders im Januar 1889 ihre Tätigkeit als Nachlassverwalterin und Herausgeberin seiner Werke.

Das von ihr 1894 in Naumburg gegründete Nietzsche-Archiv wird bis heute in einem Atemzug mit Elisabeth Förster-Nietzsche genannt und Kerstin Decker erzählt mit ironisch-ernster Diktion die Kämpfe, die diese Frau austragen musste, denn immerhin, sie war – nur – eine Frau in einer Zeit, in der das weibliche Geschlecht bestenfalls als angenehmes gesellschaftliches Aushängeschild galt und Intellekt ausschließlich die Domäne der Männer war.

Die Antwort auf die Frage, ob Elisabeth eine Fälscherin war, die die Werke ihres Bruders "gereinigt" hat oder erst den Weg für eine historisch-kritische Gesamtausgabe geebnet hat, ist angesichts der von Nietzsche hinterlassenen Schriften, zumeist Notizen, Anmerkungen und Briefe, schwer zu beantworten und so enthält sich die Autorin einer abschließenden Antwort. Nietzsche, der alles andere als ein Systematiker war, machte es seinen Herausgebern nicht gerade leicht.

"Die Schwester" räumt mit bekannt geglaubten Allgemeinplätzen bezüglich der Fälscherin Elisabeth Förster-Nietzsche auf und demaskiert dabei so manches männlich-eitle und feige Verhalten, stellvertretend dafür Rudolf Steiner, ihrer Zeitgenossen.

Eine Intellektuelle war die Schwester Nietzsches gewiss nicht, aber sie zeichnete sich durch Willensstärke, Durchsetzungsfähigkeit und Organisationstalent aus. Ihr Lebenswerk, das Nietzsche-Archiv, beweist, dass sie weit davon entfernt war, Durchschnitt zu sein. Kerstin Decker hat mit dieser Biographie nicht nur eine symbiotisch anmutende, immer auch zwischen den Polen Hass und Liebe taumelnde Geschwisterbeziehung beschrieben, sondern ebenfalls einen Bericht über die geistige Situation jener Epoche, die erst langsam begann, das Objekt des Lebens der Elisabeth Förster-Nietzsche, Friedrich Nietzsche, zu vereinnahmen.




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Veröffentlicht am 27. November 2016