Buchkritik -- Hanne Ørstavik -- Die Zeit, die es dauert

Umschlagfoto, Buchkritik, Hanne Ørstavik. Die Zeit, die es dauert, InKulturA Ob wir es wollen oder nicht, wir tragen das mentale Erbe unserer Eltern ein Leben lang in uns und obwohl wir bestrebt sind, es tief in unserem Inneren zu verbergen, zu verdrängen und zu vergessen, drängt es oft mit Macht wieder ins Bewusstsein und damit ins tägliche Leben.

Signe ist mit ihrem Mann und der kleinen Tochter der Großstadt entflohen und aufs Land gezogen, in der Hoffnung, dass sich ihre Befindlichkeit, genauer gesagt ihre Antriebslosigkeit und ihre wechselnden emotionalen Zustände verringern würden und sie wieder ein davon unbelastetes Leben führen könnte. Das ist jedoch nicht der Fall und belastet die Beziehung zu ihrem Mann, dem sie vorwirft, sie im neuen Heim, ein altes Bauernhaus, nicht genügend zu unterstützen.

Als Signes Plan das Weihnachtsfest zum ersten Mal nur mit Mann und Tochter zu verbringen durch die Ankündigung des Besuchs ihrer Eltern ins Wanken gerät, ist sie auf einmal wieder präsent, ihre eigene Geschichte, eine vergangene, aber nicht vergessene Kindheit, die ihre Spuren tief im Unterbewusstsein hinterlassen hat.

Als die Eltern und ihr Bruder eintreffen, beginnt für die Leserinnen und Leser eine dramatische Rückschau auf eine verstörende Kindheit. Ein despotisch agierender Vater, der wieder und wieder die Einheit der Familie beschwört, diese durch sein Handeln jedoch längst zerstört hat. Eine Mutter, seltsam passiv und die immer aggressiver werdenden Vorwürfe ihres Mannes mit scheinbar stoischer Gelassenheit an sich vorüberziehen lässt, in Wirklichkeit aber innerlich daran droht zugrunde zu gehen. Nicht zuletzt der Bruder, dessen Reaktion auf das zerrüttete Familienleben im Rückzug in die digitale Welt besteht.

Hanne Ørstavik erzählt eine Familiengeschichte, deren Protagonisten in einer Welt leben, die für alle Beteiligten wenig Freude, Wärme und Geborgenheit bietet. Es ist kurz vor Weihnachten und doch will sich die von Signe so ersehnte Stimmung nicht einstellen. Die Eltern sind gefangen in ihrer jeweils eigenen beruflichen und persönlichen Unzufriedenheit, jedoch nicht in der Lage, diese Probleme zu lösen.

Der familiäre Mikrokosmos, in dem alle vier Personen leiden, gebiert Einsamkeit und eine emotionale Distanz, die erschauern lässt. Mit präziser Diktion seziert die Autorin eine Kindheit, deren Auswirkungen für die längst erwachsene Sign auf einmal wieder präsent sind und bei den Leserinnen und Lesern stumme Wut hinterlässt. „Die Zeit, die es dauert“ ist ein Roman, der tief unter die Haut geht.




Meine Bewertung:Bewertung

Veröffentlicht am 15. September 2019