Buchkritik -- Barbara Erdmann -- Deine letzte Träne

Umschlagfoto  -- Barbara Erdmann  --  Deine letzte Träne Eine intakte Gesellschaft zeichnet sich nicht zuletzt durch eine generationenübergreifende und kontinuierliche Kommunikation aus. Die Heutigen bewahren in ihren Taten und Gedanken das Vermächtnis der vor ihnen Lebenden und geben der zukünftigen Generation Hilfestellung und Wegweisung. Das bedeutet jedoch nicht das Verharren in Heldenverehrung und Epigonentum, sondern auch - wie die deutsche Geschichte gezeigt hat - das schmerzhafte Wissen darum, dass das Scheitern einer Gemeinschaft jederzeit möglich ist. Gesellschaften, denen das Bewusstsein der historischen Kontinuität abhanden gekommen ist, sind zum Untergang verurteilt.

Seit den späten 60er Jahren hat es in Deutschland einen Paradigmenwechsel gegeben, der von so radikalen Art war, dass dessen Folgen den Höhepunkt ihrer zerstörerischen Wirkung auch heute noch nicht erreicht haben - und das will bei dem desaströsen Maß aktueller gesellschaftlicher Auflösung etwas heißen. Der seitdem stattgefundene totale Bruch mit der biologisch und psychisch so wichtigen Erkenntnis, dass die Kommunikation zwischen den Generationen niemals abbrechen darf, etabliert in zunehmendem Maße ausschließlich Surrogate, die sich anmaßen soziale Netzwerke zu sein, dabei allerdings nur Ersatzkonstruktionen für verloren gegangene familiäre und gesellschaftliche Strukturen darstellen.

Barbara Erdmann, deren Bücher immer eine Anklage gegen den herrschenden Zeitgeist sind, hat mit ihrem bereits 2010 erschienenen Buch Deine letzte Träne ein bewegendes Andenken an ihren Vater hinterlassen. Auf zwei Ebenen - die ersten zwanzig Lebensjahre von Heinz-Jürgen Klinkenbuß und sechzig Jahre später sein vergeblicher Kampf als Patient gegen das "moderne deutsche Gesundheitssystem" - erzählt sie die Geschichte eines Mannes, der wie so viele mit ihm, den Verlockungen des Nationalsozialismus erlegen ist. Jugendorganisationen und in diesem Fall die Fliegerschule wiegen eine ganze Generation in dem Gefühl, einer glücklichen Zukunft entgegen zu sehen.

So sind dann auch diese Erinnerungen ein Zeitzeugenbericht, der es dem heutigen Leser verständlich macht, wie es dem nationalsozialistischen Regime gelang, nahezu ein ganzes Volk in seinen Bann zu ziehen. Spätestens im Bombenhagel der alliierten Luftangriffe war damit jedoch Schluss. Jeder Heutige, der in anmaßender Weise über das politische Verhalten der Deutschen Bevölkerung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts urteilt, sollte sich die Zeit nehmen und die autobiographischen Notizen und Gedanken von Heinz-Jürgen Klinkenbuß lesen. Vielleicht wird ihm dann einiges über die politischen Verführungskünste des Nationalsozialismus klar.

Viel bewegender und dramatischer kommt die zweite Ebenen dieses Buches daher, in der Barbara Erdmann über den letztendlich vergeblichen Kampf ihres Vaters in der Gegenwart schreibt. Eigentlich wegen eines leichten Schlaganfalls in die Klinik eingeliefert, beginnt von diesem Augenblick an ein verzweifeltes Ringen mit der deutschen Gesundheitsindustrie.

Ärzte die ihr Handwerk nicht beherrschen, Personalmangel bei Krankenschwestern und Pflegern, Zeitdruck und ein großes Defizit an jeglichen empathischen Fähigkeiten bezüglich der zu betreuenden und zu versorgenden Patienten. Dem gegenüber stehen die nahezu ohnmächtigen Verwandten, die mitansehen müssen, wie durch Fehldiagnosen und unzureichende Betreuung aus einem scheinbaren Routinefall ein medizinisches und menschliches Desaster wird. Wütend aber nahezu hilflos muss die Autorin zusehen, wie die Kräfte ihres Vaters nicht zuletzt durch eine misslungene Operation schwinden.

Das Buch Deine letzte Träne ist auch eine Anklage gegen ein politisches System, das es zulässt, dass die einstmals in Deutschland kompetente und umfassende medizinische Versorgung zugunsten einer Gewinnmaximierung von Aktionären geopfert wurde. Wer kann z. B. der Forderung der Autorin nach einer besseren Bezahlung derjenigen, die sich um Patienten kümmern widersprechen? Es ist kein Zufall, dass gerade zum Zeitpunkt der Ausstrahlung (1985) der ersten deutschen Krankenhausserie - Die Schwarzwaldklinik - der Abbau des öffentlichen Gesundheitssystems begann. Wer sich heute in den Sendern des Öffentlich-Rechtlichen und den Privaten umsieht, der kann daran den aktuellen Zustand des unter Dauerreform stehenden Gesundheitssystems ablesen. Je mehr Arzt- und Krankenhausserien, desto schlimmer der Zustand in dem sich das real System befindet. Umfassende und kompetente Versorgung, sowie menschliche Zuwendung gibt es ausschließlich im Fernsehen. Ein weiteres Merkmal der zerstörten Kontinuität zwischen den Generationen.

Deine letzte Träne ist ein bewegendes und in weiten Teilen wütend machendes Buch. Es erzählt sowohl von einer Vergangenheit, die, wie in diesem Fall, von vielen Zeitgenossen zu Unrecht ausgeblendet wird, als auch von einer Gegenwart, die von den heute Lebenden nicht richtig wahrgenommen werden will. Die Frage, was das für die Zukunft bedeuten mag, muss sich jeder Leser selber beantworten.




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