Buchkritik -- Elisabeth Lexer -- Fluchttiere

Umschlagfoto, Buchkritik, Elisabeth Lexer, Fluchttiere, InKulturA Können wir alles hinter uns lassen, ohne das mitzunehmen, was uns wie ein Mühlstein, ein Ballast aus gelebtem Leben mit Irrtümern, Sackgassen und Verzweiflungen, verfolgt? Gibt es den so oft beschworenen Neuanfang oder ist dieser nicht eher eine Wunschvorstellung, die an dem zu Scheitern droht, was wir die eigene Lebensgeschichte nennen?

Elsa, eine nicht mehr ganz junge Frau hat eine lieblose, nur noch aus Routine bestehende Ehe hinter sich gelassen und zieht mit ihrem neuen Lebensgefährten Adam in ein abgelegenes Haus, das in einer scheinbar wundervollen Naturidylle liegt, die sich jedoch bald als nicht nur wetterbedingte Herausforderung erweist. Doch nicht nur die Natur stellt sich als gefühlte Bedrohung heraus, als viel schlimmer erweisen sich die quälenden Zweifel Elsas an sich und ihrem gemeinsamen Aufbruch in ein neues Leben.

Der Neuanfang gestaltet sich dann auch in zweifacher, sich gegenseitig bedingender Hinsicht schwierig. Das neue Domizil ist, wie die zurückgelassen geglaubte Vergangenheit, eher eine Baustelle als ein behagliches Heim. Kälte, die Unbill der Natur und Nachbarn, die bis auf eine verschrobene Alte Fremde bleiben, erleichtern nicht gerade die Eingewöhnung in die neue Umgebung.

Fremd wird auch die eigene Geschichte, die Elsa nicht müde wird, noch einmal zu rekapitulieren, erneut durchzumachen und dabei immer wieder die Frage stellend, an welchen Stellen, Lebenspunkten und Verzweigungen falsch abgebogen wurde. Wann haben die Träume begonnen, sich zu verlaufen, sich den täglichen Gegebenheiten geopfert und wann wurden sie zugunsten materieller Saturiertheit verraten.

Elisabeth Lexer lässt Elsa mit gnadenloser Introspektion den Weg von jugendlicher Überzeugung, die Welt verändern, sie aus den Angeln heben zu können, hin zu erwachsenem Alltagstrott und das Mitschwimmen im gesellschaftliche-sozialen Umfeld, im gehobenen Ambiente des konsumierenden Mainstreams, nachzeichnen.

Als Adam während eines starken Gewitters das Haus verlässt, um den dadurch entstandenen Stromausfall zu beheben, gerät Elsa in Panik, denn durch seine, ihrem Gefühl geschuldet, stundenlange Abwesenheit und, wie sie zuletzt annimmt, seinen Unfall während des tobenden Unwetters, ergreift sie das Gefühl grenzenloser Einsamkeit.

Sowohl Adam als auch Elsa sind Getriebene ihrer jeweiligen Lebensgeschichten. Adam überdrüssig der, wie er es darstellt, aufgezwungenen familiären Verpflichtungen als Ehemann und Vater. Elsa hingegen ist durch ihr zunehmend kritisches Hinterfragen ihres bisherigen Lebens sukzessive zur Außenseiterin im Freundes- und Bekanntenkreis geworden. Von der Entfremdung von ihrem Ehemann ganz zu schweigen.

Das, was als Neuanfang geplant war, entwickelt sich überraschend, aber mit gnadenloser Härte für beide zu einer Bilanzierung ihrer bisherigen Leben und, bereits die ersten Seiten der Novelle deuten es an, der mitgeführte Ballast der Jahrzehnte fordert seinen Tribut.

„Fluchttiere“ lässt schlussendlich die Frage offen, ob es so etwas wie gelungenen Leben geben kann und ob die Floskel vom Neuanfang in Wirklichkeit eben diese bleibt.




Meine Bewertung:Bewertung

Veröffentlicht am 22. November 2022