Buchkritik -- Ryan Gattis -- In den Straßen die Wut

Umschlagfoto, Ryan Gattis, In den Straßen die Wut, InKulturA Am 29. April 1992 begannen in Los Angeles gewalttätige Auseinandersetzungen, nachdem ein Gericht vier Polizisten, drei Weiße und ein Latino, die der Misshandlung des Afroamerikaners Rodney King beschuldigt wurden, freisprach. Mehrere Tage lang brach die öffentliche Ordnung zusammen. Ein rasender Mob plünderte Geschäfte, steckt Häuser in Brand und konnte erst durch den massiven Einsatz von Polizeikräften, der Nationalgarde, der US Marines und der US Army unter Kontrolle gebracht werden.

Ryan Gattis hat in seinem Roman "In den Straßen die Wut" eine fiktive Handlung konstruiert und mit, wie der Verlag es nennt, intensiver recherchierter Information, gemischt. "Sourced fiction", so der Autor, ist dann auch eine interessante Mischung aus den persönlichen Erlebnissen der von den Ausschreitungen Betroffenen.

Gattis lässt sie alle zu Wort kommen. Gangmitglieder, Feuerwehrleute, Polizisten, Nationalgardisten und Krankenschwestern, deren Weg sich während der Unruhen mehr oder weniger zufällig kreuzen und die ihre jeweils eigene Sicht der Dinge schildern.

In South Central, dem am heftigsten von den Unruhen betroffenen Viertel, herrschte bereits lange vor den Los Angeles Riots eine Atmosphäre der Gewalt und des gegenseitigen Misstrauens. Eine multikulturelle Mischung aus lateinamerikanischen und koreanischen Einwanderern, letztere wirtschaftlich erfolgreicher als die Latinofamilien, ließ Ressentiments entstehen, die nur auf einen Auslöser gewartet haben, um das Pulverfass vermeintlich verletzter Ehre zur Explosion zu bringen.

So war der Freispruch der vier Polizisten nur der oberflächliche Auslöser der Unruhen. Deren Wurzeln lagen in Wirklichkeit schon lange vorher in ethnischen und kulturellen Konflikten, die während des Ausnahmezustand erst richtig ausbrachen. Wenn die öffentliche Ordnung zusammengebrochen ist und die Staatsmacht das Feld geräumt hat, kommt unweigerlich die Zeit, in der alte Rechnungen beglichen werden.

Der Autor lässt seine allesamt tragischen Figuren ausführlich zu Wort kommen. Es ist eine kleine Welt, in der die jeweiligen Latinogangs herrschen. Ein oder zwei Straßenviertel, in denen gedealt, konsumiert, Konflikte verursacht und gewaltsam gelöst werden. Respekt und Ehre werden erwartet und deren Missachtung blutig bestraft.

Gattis hält sich fern von jeglichem, gerade bei Soziologen beliebten Wortgeschwurbel und lässt seine Protagonisten ungeschminkt zu Wort kommen. "In den Straßen die Wut" ist ein harter Blick auf US-amerikanische Verhältnisse, in denen die Wenigen fast alles besitzen, die meisten jedoch zu den Verlierern gehören.

Es ist eine verkehrte Welt, in der der Roman spielt. Mangels Bildung und der daraus resultierenden Arbeitslosigkeit sind kriminelle Aktivitäten der Gangs die einzige, aber lukrative Erwerbsmöglichkeit. Der Autor formuliert die Aussagen seiner Personen glücklicherweise ohne moralinsaure Anteilnahme. Die Welt ist eben wie sie ist. Bis auf wenige Ausnahmen kann sich kein Gangmitglied vorstellen, etwas anderes mit seinem Leben anzufangen als kriminelle Aktivitäten. Zu weit sind die Gangmitglieder von den Maßstäben einer normal funktionierenden Gesellschaft entfernt.

Jemand umlegen? Klar, wenn es der Boss befiehlt, auch zehnjährige Kinder. Trotz aller Großmäuligkeit und Machogehabe, trotz Gewalt und Sadismus sind auch die Gangchefs nur kleine Figuren im kriminellen Spiel, die ausschließlich von der Gnade der Oberbosse abhängig sind. Diese werden von Gattis immer wieder angesprochen, doch niemals näher beleuchtet. Ob das wohl damit zu tun hat, dass, wie es wiederum der Verlag etwas reißerisch darstellt, der Autor seine Informationen über das Innenleben der Gangs von einem realen und kriminell aktiven "Schwergewicht" erhalten hat?

Wie dem auch sein, "In den Straßen die Wut" ist ein großartiger, wortgewaltiger und brutaler Roman über den angesagten Zusammenbruch einer multikulturellen Gesellschaft.

Nicht unerwähnt soll Ingo Herzke bleiben, dessen kongeniale Übersetzung diesen Roman auch für ausschließlich deutschsprachige Leser zugänglich gemacht hat.




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Veröffentlicht am 30. Januar 2016