Buchkritik -- Alfred Goubran -- Das letzte Journal

Umschlagfoto, Alfred Goubran, Das letzte Journal, InKulturA Bilanz ziehen, für sich und über die Geschichte, das bedarf manchmal eines äußeren Anstoßes, der ein Leben in ein Davor und ein Danach spaltet. Der Schriftsteller Aumeier begegnet 41 Jahre nach der Trennung erneut seiner Jugendliebe Terése. Längst desillusioniert von Politik, Gesellschaft und Kunstbetrieb - "So ist es eine gemütliche Diktatur, in der wir leben, eine Theaterdemokratie, in der das Publikum die Schauspieler wählt, jedoch nicht den Regisseur oder das Stück, das gespielt wird." - weckt das Treffen in ihm neue Hoffnung auf eine plötzlich möglich gewordene andere Zukunft. Er zieht auf das Landgut von Terése und beginnt dort in einem Treibhaus, das sie zur Orchideenzucht nutzt, sein Journal zu schreiben.

Nach und nach, in langen Gesprächen mit Terése erfährt Aumeier die Gründe für die schmerzhafte Trennung, die er nie überwunden hat. Er muss erkennen, dass es Zusammenhänge gab und gibt, die ihn zwingen, sein Leben neu zu justieren. Vor allem aber nach der schmerzhaften Erkenntnis über seine Herkunft, beschließt er zusammen mit Terése einen Neuanfang, ein neues Leben fern vom alten Kontinent zu wagen.

"Das letzte Journal" von Alfred Goubran ist nicht nur die Fortsetzung der Lebensgeschichte Aumeiers, sondern vielmehr ein Versuch über das Verhältnis von Individuum und Geschichte, die Möglichkeit der Einflussnahme, meist jedoch das Konstatieren des Scheiterns und das tragische Wissen darüber, ein kleiner Ball im großen Spiel der Mächtigen zu sein.

Mit rückblickenden Einschüben aus Aumeiers Leben, vor allem aber mit drei groß angelegten historischen Betrachtungen, das erste Pogrom gegen die Prager Juden im Jahr 1369, die Biografie von Jan Hus und die Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei nach der Niederlage Hitlerdeutschlands, entwirft Alfred Goubran ein Kaleidoskop menschlicher Abgründe, die meist, so zeigt es der Verlauf der Geschichte, unter unruhig-nervöser Hervorhebung von Trivialitäten aus dem kollektiven Bewusstsein verdrängt werden sollen. - "Da werden im ganzen Land die Menschen von Hunger und Pest dahingerafft, die Straßen sind unsicher, überall lauert mörderisches Gesindel, und einem Priester fällt nichts Besseres ein, als gegen Schnabelschuhe zu predigen" - Der Leser ist versucht, im Anschluss an diese Textstelle weitere, aktuelle Verdrängungstechniken aufzulisten.

Goubran ist ein unbestechlicher Beobachter des stets wankelmütigen Zeitgeistes und Mitschwimmen im Strom des Erlaubten und Korrekten, weil Bequemen, ist seine Sache nicht. Ist auch nicht die Sache Aumeiers, der sich am Ende seiner eigenen Geschichte, seiner wahren Herkunft stellen muss, um so vielleicht einen gelungenen Neuanfang wagen zu können.




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Veröffentlicht am 6. März 2016