Die Geschichtswissenschaft ist, vielen anderen Meinungen zum Trotz, eine Wissenschaft, deren Aussagen sich auf Zahlen, Daten und Fakten beruft. Diese drei essentiellen Dinge sind die Voraussetzung dafür, dass diese Wissenschaft ihrem Anspruch gerecht werden kann und nicht unter Zuhilfenahme von interpretatorischer Auslegung zu ideologischen Zwecken missbraucht wird. Letzteres soll im Umkehrschluss nicht bedeuten, dass die Deutung historischer Abläufe und Entwicklungen neben den harten Fakten keinen Platz für sich beanspruchen kann. Das Gegenteil ist der Fall. Geschichte muss, um verstanden zu werden, analysiert und interpretiert werden. Doch ist dies, weil damit das Gebiet der Tatsachen verlassen wird, nicht mehr der Tätigkeitsbereich der Historiker, sondern bietet einer Vielzahl von akademischen Arbeitern, z. B. Sozialwissenschaftlern, Psychologen, Anthropologen, etc. unzählige Forschungsbereiche. Im Idealfall könnten sogar Politiker daraus ihren Nutzen ziehen...
Es gibt Themen in der Geschichtswissenschaft, welche anscheinend die Eigenschaft besitzen, sich einer vorurteilsfreien Betrachtung zu entziehen. Zu diesen gehört gewiss die zwölf Jahre währende Diktatur des Nationalsozialismus und mit ihr besonders die Person Adolf Hitler. Die Versuche der Geschichtswissenschaft, sich dem Menschen Adolf Hitler zu nähern, sind bereits im Vorfeld historischer Forschung konnotativ besetzt und verhindern aufgrund der ihnen innewohnenden Negativität einen objektiven Standpunkt.
Kann man dieses Vorurteil, welches sich in der Geschichtswissenschaft gegenüber dem Diktator manifestiert hat, ab dem Jahr 1914, seinem Eintritt als Freiwilliger in die Bayerische Armee, noch nachvollziehen - jedoch nicht, im wissenschaftlichen Sinn, akzeptieren - so ist die mit Vorurteilen und pseudo-psychologischen Deutungen befrachtete Zeit von 1889 bis 1914 bislang wissenschaftlich eher vernachlässigt worden und es erschien überaus wünschenswert und notwendig, dass sich ein Historiker dieser Periode ohne Ressentiments nähern würde.
Dieses Desiderat hat Dirk Bavendamm mit seinen Buch Der junge Hitler - Korrekturen einer Biographie erfüllt. Es war bislang in der akademischen Zunft ein ungeschriebenes Gesetz, dass der spätere Diktator in seiner Jugend ein überaus fauler und zu keiner erfolgreichen Prüfung fähiger Schüler war, der zudem in den nachfolgenden Jahren die Grenze zwischen Bürgerlichkeit und Asozialität in Richtung des Letztgenannten dauerhaft überschritten hatte. Dieser nahezu einhelligen Historikermeinung stellt der Autor, wie es treffend im Untertitel genannt wird, bedeutende Korrekturen gegenüber.
Mit korrekter und einwandfreier wissenschaftlicher Methodik, nämlich Quellenstudium und Quellenvergleich - dieses Handwerk sollte jeder ernsthafte Historiker beherrschen - zeigt Bavendamm ein anderes Bild des jungen Hitler, als es seinen meinungsführenden Kollegen lieb sein kann. In aller Deutlichkeit: Niemand bestreitet die fürchterlichen Taten und Verbrechen, welche der spätere Diktator zu verantworten hatte. Diese jedoch bereits in der persönlichen Entwicklung des jungen Hitler angelegt zu sehen, ist für Bavendamm mehr Ideologie als Wissenschaft.
Aus diesem Grund widmet sich der Autor ausführlich den politischen und sozialen Strömungen dieser Zeit des Umbruchs. Österreich-Ungarn hatte seinen Höhepunkt bereits überschritten und in dem Vielvölkerstaat prallten die divergierenden Regional- und Nationalitätsinteressen aufeinander. Als Nationalist wollte Hitler bereits in seinen jungen Jahren die Deutschen beiderseits der österreichischen Grenze vereinigen. Damit war er jedoch keine Ausnahmefigur, sondern bewegte sich in der damals üblichen politischen Atmosphäre.
Von weitaus größerem Einfluss auf seine Entwicklung war nach Bavendamm der Kontakt mit der Musik Richard Wagners und die Schriften von Nietzsche, Schopenhauer und Karl May. Darüber hinaus galt sein Interesse der Architektur und der Kunst. Das gängige Bild Hitlers als eines gescheiterten Kunstmalers wird vom Autor gründlich korrigiert. Der junge Hitler war zwar unter bildungsbürgerlichem Gesichtspunkt nicht eben ein Gewinner, ungebildet jedoch keinesfalls.
Ein wesentlicher Punkt in Hitlers früher Biographie ist die Frage, ob er bereits in seinen jungen Jahren der fanatische Antisemit war, als der er während seiner Diktatur handelte. Laut Bavendamm gibt es dafür keine Beweise. Im Gegenteil, Hitler war ein großer Verehrer des damaligen Chefs der Wiener Hofoper und Komponisten Gustav Mahler. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg diente er außerdem als Soldatenrat unter Kurt Eisner, der ebenfalls Jude war.
Der Autor hat sich einem Thema zugewendet, dem bislang wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Mit Der junge Hitler - Korrekturen einer Biographie hat Dirk Bavendamm ein Buch veröffentlicht, das Quellen benutzt, die bislang unberücksichtigt blieben oder willkürlich ausgeblendet wurden. Das ist mitnichten ein Lob für das Verständnis von Wissenschaft, welches manche Zunftkollegen von Bavendamm bewiesen haben. Daneben ist es intellektuell unredlich, wenn Fakten und Quellen verschweigen werden, weil sie nicht in das politische Deutungsschema passen. Die Abgründe menschlicher Handlungen lasen sich nicht durch Verschweigen von Tatsachen erklären.
Von einer Tatsache kann man jedoch ausgehen. Hätte sich ein junger, in Fachkreisen noch unbekannter Historiker diesem Gegenstand gewidmet und wäre aufgrund ausführlichen Quellenstudiums zu ähnlichen Ergebnissen gelangt, wäre seine akademische Laufbahn wohl beendet. Wieder kein Lob für das Selbstbild dieser Berufsgruppe.
Von Dirk Bavendamm ebenfalls besprochen: Roosevelts Krieg
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