Buchkritik -- Jürgen Kaizik -- Die Zukunft der Gottesanbeterin

Umschlagfoto, Jürgen Kaizik, Die Zukunft der Gottesanbeterin, InKulturA Unter der dünnen Oberfläche der Zivilisation lauern stets, niemand hat das schonungsloser analysiert als Sigmund Freud, archaisch anmutende Kräfte, die nur darauf warten, eine Gelegenheit zum Ausbruch zu erhalten. Ausgerechnet in Wien, dort wo Freud die Idee einer Grenze zwischen Wahn und Vernunft ad absurdum führte, treffen die karrierebewusste Lucie, der labile Max und der Analytiker Prof. Leguan aufeinander.

Lucie muss sich auf ihrem Weg an die Führungsetage eine harte Schale zulegen, da sie täglich Mobbing-Attacken und Sexismus erlebt. Ihre Psyche wehrt sich dagegen und lässt die Karrierefrau gewalttätige Träume erleben, in denen sie Männer tötet. Um diese Störungen in den Griff zu bekommen, sucht sie Hilfe bei Prof. Leguan, gerät durch Zufall jedoch am Max, der sich, fasziniert von dieser Frau, als Analytiker ausgibt.

Wenn die Diagnose Freuds korrekt ist, und vieles spricht dafür, dass Kulturen in toto Gefahr laufen neurotisch zu werden, dann ist Jürgen Kaiziks Roman "Die Zukunft der Gottesanbeterin" eine Bestätigung dafür, dass dieser Zustand in unserer Zeit wieder einmal erreicht ist. Egoismus, der in Narzissmus umschlägt und Wut, die sich in ausgelebten Gewaltphantasien manifestiert, kennzeichnen den Zustand des wiederholten Überschreitens der fragilen Grenze zwischen nur scheinbarer Normalität und abweichendem, leichthin als krankhaft bezeichnetem Verhalten.

Über allem schwebt der schier omnipotente Prof. Leguan, der, Zyniker par excellence, virtuos auf der Klaviatur menschlichen Verhaltens spielt. "Um mit unserem Leben zu beginnen, müssen wir die Tode unserer Kindheit überleben. [...] Das schaffen nicht alle". Diese Worte legt der Autor dem Analytiker in den Mund und so wird der Leser Zeuge, wie sehr die Personen des Romans an ihrer Vergangenheit leiden, ohne sie wirklich hinter sich lassen zu können.

Die Grenzen zwischen normal und von der Norm abweichendem Verhalten sind ebenso fließend wie die zwischen gesund und krank, vom Unterschied zwischen Täter und Opfer ganz zu schweigen. Um sein Verhalten, wie abgedriftet von der gesellschaftlichen Konvention es auch immer sein mag, zu rechtfertigen, benötigt man nur die Hilfe des richtigen Analytikers. Wer könnte dazu besser geeignet sein, als ein Therapeut, dessen Behandlung im angewandten Sarkasmus besteht. Der Zyniker als letzter Mensch. Jürgen Kaizik beschreibt ihn mit tragischem Witz.




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Veröffentlicht am 28. November 2015