Sind moralische Kategorien abhängig vom politischen oder gesellschaftlicher Kontext? Sind „Gut“ und „Böse“ ausschließlich religionsspezifische Begriffe? Gibt es überhaupt eine universelle Ethik, nach der sich menschliches Handeln messen und bewerten lässt? Nicht zuletzt die seit 2015 massiv in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit geratene Flüchtlingskrise demonstriert einmal mehr die Tatsache, dass jeglicher Absolutheitsanspruch ethischer Prinzipien obsolet ist, vielleicht schon immer gewesen ist.
In sieben um die Themen Migration und Flucht kreisenden Geschichten, ineinander verwoben, ohne dass deren Figuren persönlichen Kontakt herstellen, immer wieder den Fokus variierend, erzählt Bastian Kresser von Einzelschicksalen, die doch gleichsam die Summe dessen bilden, was nicht zuletzt auch das Resultat der Globalisierung darstellt.
Deren Credo, die freie Zirkulation von Waren und Menschen, hat mit den aktuellen Migrationsbewegungen einen Nebeneffekt erreicht, dessen Auswirkungen individuell unterschiedlich sind, im Kontext allerdings einen Zusammenhang darstellen, der diese Sichtweise als zumindest hinterfragbar erscheinen lässt.
Da ist ein leitender Angestellter einer spanischen Firma, die mit der Produktion und dem Verkauf von Stacheldraht zur Sicherung von Grenzen einen millionenschweren Umsatz macht. Da ist ein Fischer, der fast wider Willen den finanziellen Verlockungen der Schleuserkriminalität erliegt. Da ist ein Syrer, der als Schwarzhändler den Lebensunterhalt für sich und seine Familie verdient und dadurch direkt in den gewalttätigen Strudel seiner Heimat verwickelt wird. Da ist die Journalistin, die besessen ist von der Idee, die Reportage ihre Lebens abzuliefern und dafür bereit ist, alles zu riskieren, sogar ihr Leben.
Es sind Geschichten von Profiteuren, aber auch Momentaufnahmen individueller Entscheidungen, die weniger auf freiwilliger Basis entstehen, sondern den Umständen geschuldet sind. Polarisierend zwischen dem dumpfen Hass eines gelangweilten Rentners – etwas überzeichnet die Figur des tumben Deutschen – und dem in einer juristischen Grauzone angesiedelten Handeln des Kapitäns eines Schiffes, das Flüchtlinge aus Seenot rettet, ist keiner der Akteure in der Lage, über seine Handlungen hinaus das Gesamtbild zu erfassen.
Es sind normale Menschen, deren Verwicklungen und Abhängigkeiten Bastian Kresser schildert. Gleichzeitig sind es jedoch auch die Akteure in einem Drama, die dafür Sorge tragen, dass es zu keiner Lösung des Problems Migration kommen kann. Bezeichnenderweise ist keine der Figuren ein Politiker, was den Leser vermuten lässt, dass der Autor von diesem Personenkreis am allerwenigsten eine Antwort auf die drängenden Fragen globaler Flüchtlingsbewegungen erwartet.
Meine Bewertung:
Veröffentlicht am 23. März 2019