Buchkritik -- Anne Reinecke -- Leinsee

Umschlagfoto, Buchkritik, Anne Reinecke, Leinsee, InKulturA Karl ist Mitte 20 und lebt als anerkannter Künstler in Berlin. Doch tief in seinem Inneren ist er ein einsames und verunsichertes Kind geblieben. Seine Eltern, August und Ada Stiegenhauer waren das angesagte Paar der deutschen Kunstszene und ihr Sohn, so zumindest rückblickend aus Karls Sicht, ein Störfaktor in der gelebten Installation Stiegenhauer. Nach dem Internatsbesuch bricht er den Kontakt zu seinen Eltern ab, nimmt einen neuen Namen an und versucht, ein eigenes Leben abseits des Künstlerehepaares zu führen.

Der Selbstmord seines Vaters führt ihn zurück in die süddeutsche Idylle nach Leinsee, wo er sich um die Beerdigung und um seine todkranke Mutter kümmern muss. Die Mutter, deren Krankheit der Grund für den Suizid des Vaters war, erholt sich jedoch überraschend und, noch überraschender für Karl, hält fortan ihren Sohn für ihren Mann.

Von einem Tag auf den anderen gerät sein Leben emotional aus den Fugen. Seine, die Beziehung dominierende Freundin Mara besteht auf eine schnelle Rückkehr nach Berlin, da seine künstlerischen Arbeiten Aufsehen erregt haben, das es gilt zu verfestigen. Gleichzeitig ist Karl von der Reaktion seiner Mutter, die in ihm den Ehemann sieht, gespalten mit der Tendenz, sich über die in seiner Kindheit vermisste Nähe und Aufmerksamkeit zu freuen.

Wirklich bewegend wird für ihn aber die Bekanntschaft mit der achtjährigen Tanja, die ihm, der eigentlich beziehungslos und emotional ungefestigt vor sich hin lebt, eine neue Welt, einen neuen Zugang zur Wahrnehmung, zum Sehen und Fühlen öffnet. Diese Begegnung ist für Karl wie eine zweite Geburt und die Chance auf ein anderes, selbst bestimmtes Leben.

Wenn das Adjektiv "wunderbar" auf einen Roman zutrifft, dann auf alle Fälle für das literarische Debut von Anne Reinecke, die mit "Leinsee" eine gefühlvolle Geschichte, die jedoch niemals den schmalen Grat zwischen Anspruch und Trivialität verlässt, erzählt. Eine Geschichte, ja ein modernes Märchen über die Macht der Liebe und deren Kraft zur Neuerfindung eines Individuums.

Die problematischen Klippen der Fragilität einer Beziehung eines erwachsenen Mannes zu einem achtjährigen Mädchen umschifft die Autorin gekonnt durch den Zauber der Unschuld, die gerade von Karl ausgeht, der sich gar nicht so tief unter der Oberfläche seines Wesens seine kindliche Unschuld bewahrt hat. Erst die Begegnung und der daraus resultierende, über viele Jahre dauernde Kontakt ermöglicht es Karl, seine Entwicklung zu einem Mann und Künstler zu vollenden.

Es fällt schwer, diesen Roman aus der Hand zu legen und danach wieder in den profanen Alltag einzutauchen. Doch, die Autorin versteht ihr Handwerk, der Schluss, für den erneut das Adjektiv "wunderbar" gilt, gibt dem Leser die Möglichkeit, über die mögliche Zukunft von Karl und Tanja zu spekulieren. "Leinsee" wirkt nach.




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Veröffentlicht am 11. Mai 2018