Buchkritik -- Michael Kreisel -- Die Einsamkeit der Möwe

Umschlagfoto, Michael Kreisel, Die Einsamkeit der Möwe, InKulturA Sind unsere intensivsten Eindrücke nicht oft die, deren Dauer am kürzesten ist, die mit Momentaufnahmen unsere absolute Aufmerksamkeit erzwingen und die bis tief hinein in unser Inneres, dessen Einfluss auf uns wir gerne vor den anderen verbergen, wirken? Zeigen uns diese Augenblicke ungeschönten Bewusstseins nicht auch eine andere Möglichkeit des Existierens weit unterhalb – oder oberhalb – unsere Alltagserfahrung?

Keine andere Form der Literatur bringt diese wenigen Sekunden tief empfundener Andersheit, Gefühle von Schmerz, Trauer, aber auch Freude und Lust dermaßen auf den Punkt, wie die ursprünglich aus dem asiatischen Kulturkreis stammenden Haiku-Gedicht. Dort, nach strengen stilistischen Vorgaben komponiert, erfreut sich diese lyrische Form großer Beliebtheit und ist, im wahrsten Sinn des Wortes eine volksnahe Art atmosphärisch verdichteter Lebensbewältigung.

Auch im deutschen Sprachraum erfreut sich die Haiku-Dichtung zunehmender Beliebtheit und ist dazu angetan, das lyrische Ich vom Zeilenballast zu befreien und es sich auf das Wesentliche, das oft Numinose, das, wie es der Religionswissenschaftler Rudolf Otto ausgedrückt hat, „gestaltlos Göttliche", konzentrieren lässt. Obwohl Haiku-Dichtung keine primär religiöse Literaturform darstellt, erreichen diese Dreizeiler doch oft eine fast spirituelle Tiefe, die für wenige Sekunden die festgefügte Oberfläche des Sichtbaren in einen Möglichkeitsraum transferiert, dessen Intensität uns Staunen lässt.

Michael Kreisel hat in seinen neuen Haiku-Gedichten diese Augenblicke festgehalten, das Alltägliche unterbrochen und für einen kurzen Augenblick können wir Verborgenes ahnen, Verstecktes aufspüren und Vergängliches erfahrbar machen. Zeilen wie diese

Allein in der Luft / die Einsamkeit der Möwe / trifft mich wie ein Schlag

berühren tief und schwingen noch lange nach. Dieser kleine aber feine Band ist eine stille literarische Meditation.




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Veröffentlicht am 7. Februar 2020

Rezension von Thomas Hardler