Buchkritik -- Yoko Ogawa -- Der Herr der kleinen Vögel

Umschlagfoto, Yoko Ogawa, Der Herr der kleinen Vögel, InKulturA Es ist die große Welt mit ihren sich ständig verändernden und dabei im Prinzip doch immer gleich bleibendem Strom an Nachrichten, Skandalen und anderen Merkwürdigkeiten, die um uns herum einen Kokon aus Dissonanzen und Lärm verursacht. Hin- und hergeworfen zwischen mal brisanten, mal lächerlichen, mal tragischen, jedenfalls immer ephemeren Ereignissen, sind die meisten damit beschäftigt, die alltägliche Kakophonie der scheinbar wichtigen Informationen zu verarbeiten - oder zu verdrängen.

Daneben gibt es die nur auf den ersten Blick kleine Welt der Innerlichkeit, die, wenn man denn Augen, Ohren und Seele öffnet, größer als das Universum sein kann. In ihrem leisen, aber bewegenden Roman "Der Herr der kleinen Vögel" erzählt die japanische Autorin Yoko Ogawa die Geschichte zweier Brüder, die, fast abgeschottet von der Welt, in ihrer eigenen Sphäre leben. Der ältere Bruder weist, obwohl das im Roman nicht explizit erwähnt wird, autistische Merkmale auf, spricht eine eigene, nur vom Bruder verstandene Sprache, und sein einziges Interesse ist das Beobachten und die Pflege von Vögeln.

Während der jüngere Bruder durch seine Tätigkeit als Verwalter Kontakt mit der Außenwelt hat, widmet sich der ältere ausschließlich um die Belange der Vögel. Jeder Tag wirkt auf den Leser wie der andere, doch bei intensiver Lektüre erschließt sich eine Welt der feinen Unterschiede. Die vom Allgemeinen differente Wahrnehmung des Älteren erschließt auch dem Jüngeren im Lauf der Zeit eine Welt, die sich der leisen Töne bedient und in der nicht hektische Wechsel der Betriebsamkeit den Takt vorgibt, sondern die ruhige Schönheit der Konstanz. Sie gibt den Brüdern Sicherheit und bildet gleichermaßen eine schützende Hülle vor den Ablenkungen des japanischen Großstadtlebens.

Es geschieht vordergründig nicht viel in dem Roman und doch passiert eine ganze Menge. Gewiss, der Leser benötigt eine gewisse ruhig-neugierige Grundstimmung, wenn der dieses Buch liest, wird jedoch mit einem wunderbaren Stück Prosa belohnt, dessen Sätze eine Poesie besitzen, die man so intensiv lange nicht gelesen hat.

"Wenn er auf der Bank im Pavillon zu Mittag aß, dachte er oft an die Zugvögel. An jene, die von anderen Tieren angegriffen und verletzt wurden, an die halb verhungerten, weil sie kein Futter fanden, oder an jene, die unerwartet von ihrem Kurs abweichen mussten und nicht ans Ziel ihrer Reise gelangten.
Ein Kranich kauert im dichten Schilf. Sein Gefieder ist zerrupft, er hat keine Kraft mehr, um die Flügel zu heben. Das Sumpfgras ist seine einzige Zuflucht. Die Gefährten sind bereits weitergeflogen. Er hat keine Orientierung, er weiß nicht, wo er sich befindet oder wie weit es noch bis zum Ziel ist.
Die Sterne am Himmel funkeln in unendlich weiter Ferne. Wie Signale, zwischen denen zunächst kein Zusammenhang besteht, nur eine Vielzahl einzelner Punkte, versprengt am Firmament. Er hebt den Blick zum Himmel und liest die Punkte. Wie schwach er auch sein mag, in diesem Moment manifestiert sich die wundersame Intelligenz der Vögel während der Nacht. Jene Weisheit, die sein Bruder so bewundert hat. Ihre Gedanken kreisen um das ersehnte Ziel, das in weiter Ferne liegt. Die Form der Bäume, die dort wachsen, die Richtung des Windes, der Geruch der Erde – er erinnert sich an alles.
Sein Ende ist gekommen. An diesem fremden Ort, wo ihm keiner zu Hilfe eilt. Er schließt für immer die Augen. Wie sehr man auf ihn warten mag, er wird nie zurückkehren."

In diesen wenigen Sätzen klingt ein Universum der Emotionen an, das, die ganze Spannbreite zwischen Trauer und Hoffnung auf einen winzigen Punkt fokussierend, für den, der die leisen Töne hören kann, Momente des Glücks und der Wehmut vereint.

"Der Herr der kleinen Vögel" von Yoko Ogawa ist ein tief berührender Roman über ein lebenslang praktiziertes Zurückstellen der eigenen Wichtigkeit, die sich angesichts der alltäglichen Belanglosigkeiten als bloße Täuschung erweist. Das Buch lässt einen Leser zurück, der zugleich glücklich und melancholisch ist. Der Autorin ist ein wahrhaft spannendes Werk geglückt.




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Veröffentlicht am 6. September 2015