Buchkritik -- Franz Winter -- Orfanelle

Umschlagfoto  -- Franz Winter  --  Orfanelle Das Venedig des 18. Jahrhunderts hat längst den Zenit seines politischen und wirtschaftlichen Höhepunkts überschritten. Der Handelsverkehr konzentrierte sich auf die Schifffahrtsrouten über den Atlantik und die "Serenissima" zelebriert ihren Abgesang mit einem Fest aus Vergnügungen, Luxus, Musik und politischen Intrigen.

Es ist die Zeit des venezianischen Komponisten und Violinisten Antonio Lucio Vivaldi, der auch das Orchester des Ospedale della Pietà, eines der vier Waisenheime für Mädchen in Venedig, betreute. Die sinnenfrohe Atmosphäre der Lagunenstadt führte zu einem regen Interesse an den venezianischen "Babyklappen" des 18. Jahrhunderts und die katholische Kirche scheute sich nicht, mit diesen Waisenkindern ein florierendes Geschäft zu machen. Während die Jungen als "preiswerte" Arbeitskräfte verkauft werden, lässt man den Mädchen eine Ausbildung zur Krankenschwester oder Magd angedeihen oder verkauft sie als Siedlerbräute nach Übersee. Daneben jedoch werden die musikalisch Begabtesten zu Orchestermusikerinnen ausgebildet.

"Orfanelle" von Franz Winter ist die Geschichte zweier Waisenmädchen des Ospedale della Pietà. Pelegrina, eine virtuose Geigerin und Anna, eine gefeierte Sängerin, leben und leiden unter den harten Bedingungen des Waisenhauses. Früh schließen sie eine innige Freundschaft, die jäh unterbrochen wird, als Pelegrina nach Deutschland verkauft wird. Anna dagegen verliebt sich in Vivaldi und begleitet ihn auf seinen Reisen durch Europa.

Franz Winter lässt den Leser eintauchen in die Welt des Barock. Opulent und mit großem Gespür für verbales und stilistisches Detail, feiert der Roman ein literarisches Feuerwerk für die Sinne. So ist das von Winter geschilderte Fest anlässlich des Besuchs von Frederick IV., König von Dänemark und Norwegen ein, auch für heutige Maßstäbe, mit verschwenderischer Pracht ausgestattetes "Event" des 18. Jahrhunderts.

Bewusst wählt der Autor eine dem Sujet angepasste Diktion. Seine Sprache ist barokesk überladen, doch gerade durch die Benutzung dieses Stilmittels bekommt der Leser ansatzweise eine Vorstellung vom Lebensgefühl der Zeit des Hochbarocks.

Doch hinter der Fassade aus Manieriertheit lauern menschlich, allzu menschliche Motive und Beweggründe. Ohne Skrupel und im Namen der Kirche betreibt die Oberin des Ospedale della Pietà einen schwunghaften Handel mit menschlichen Objekten und sogar der berühmte und vom Adel gefeierte Vivaldi fällt einer Intrige zum Opfer.

"Orfanelle" ist ein meisterhaft komponierter Roman über die Doppeldeutigkeit und die Ambivalenz der pompös überladenen und mit vordergründiger Sinnenfreude ausgestatteten Zeit des Barock. Mittendrin das Schicksal eines Komponisten und zweier Waisenmädchen, die im Getriebe des Weltlichen drohen unterzugehen.

Der Leser, wenn er sich denn einlassen will auf die sprachmächtige Diktion des Autors, bekommt einen Eindruck davon, was den Menschen des Barock immer schmerzhaft bewusst gewesen ist, dass hinter der Fassade des Schönen, der vollkommen anmutenden Oberfläche, bereits eine andere, weniger prachtvolle Welt lauert. Franz Winter ist es mit seinem Roman "Orfanelle" gelungen, die Musik Vivaldis in Worte zu bannen.




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