Philosophie Magazin -- 03/2016

Umschlagfoto, philomag_03_2016, InKulturA "Der Westen hat alles radikal infrage gestellt: die Familie, die Heirat, das Geschlecht, die Nation und so weiter. Diese Infragestellung unserer am sichersten geglaubten Prinzipien hat viele in Unsicherheit gestürzt." Diese, freilich in einem anderen Kontext stehende Aussage Élisabeth Badinters bringt die Kalamität des modernen Menschen auf den Punkt. Er ist sich unsicher geworden bezüglich seiner selbst und seiner Stellung in der Gesellschaft.

Es treibt ihn permanent die Suche nach Authentizität, die Frage nach seinem wahren Wesen und seiner ursprünglichen Natur. "Wer ist mein wahres Selbst?" Diese Frage stellt das philosophie Magazin in seiner aktuellen Ausgabe und begibt sich damit auf die Suche nach einem, dem Zeitgeist geschuldeten Begriff, der nicht zuletzt durch die sog. sozialen Medien eine artifizielle Relevanz erhalten hat, die zur Vorsicht beim Versuch der Definition dieser Vokabel mahnt.

Die Unsicherheit, von der Badinter spricht, manifestiert sich gerade in der sozialen Netzwerken, die von Millionen Usern in der Hoffnung genutzt werden, ihre eigene Existenz von sog. Freunden und einem hohen "gefällt mir" Score bestätigt zu finden. Dabei ist das, was wohl die meisten in diesen Netzwerken treiben, ein Spiel mit stets wechselnder, im Prinzip falscher Authentizität. Nichts ist einfacher, als sich selbst im digitalen Garten permanent neu zu erfinden. Aus Männern werden Frauen, aus Rentnern stramme Jünglinge und wohl kaum eine Selbstbeschreibung dürfte der Wahrheit entsprechen.

Dazu kommt, wie es das Gespräch zwischen dem Soziologen Harald Welzer und dem Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie, Reinhard Merkel zeigt, die Eigendynamik im Netz veröffentlichter Daten. Einmal dort preisgegeben, werden sie Teil einer ewig sich erinnernden Cloud und damit Spielball und Verfügungsmasse von wirtschaftlichen und, im schlimmsten Fall, politischen Interessen, deren Algorithmen und die dahinter stehenden Auftraggeber sich der öffentlichen Kontrolle entziehen.

Der Kulturkritiker und Philosoph Byung-Chul Han weist auf ein Phänomen hin, das munter im Kielwasser jeder Inszenierung von Authentizität schwimmt: der Druck zur Konformität. Gerade der Zwang zum Anderssein treibt das Individuum in die Falle der Gleichheit. "Der Terror der Authentizität [...} schafft die Alterität ab. Das Andere oder der Andere verschwindet zugunsten des Gleichen, nämlich des gleichen Anderen." Gegen Anpassung und Konformität hat Mourad Zerhouni, im Dialog mit Georg W. Bertram, ein wirksames Rezept: "Sei kein Opfer, mach was aus deinem Leben!" Hört sich einfach an, dahinter steckt aber jede Menge Arbeit. Wer die jedoch auf sich genommen hat, der darf von sich behaupten, auch einmal so etwas wie Authentizität erreicht zu haben.

Von einem spannenden Experiment berichtet der US-amerikanische Reporter Wes Enzinna, der in Rojava, gelegen im umkämpften Grenzgebiet zwischen der Türkei, Syrien und dem Irak, Zeuge des Versuchs wurde, einen anderen politischen und gesellschaftlichen Weg zu beschreiten. Ob diese - noch - gelebte Utopie allerdings Bestand hat, darf angesichts verhärteter politischer und religiöser Fronten bezweifelt werden.





Veröffentlicht am 20. März 2016