Leseprobe -- G. G. von Bülow -- Aus dem Leben einer Tagediebin*

Félicien oder Fortuna stirbt nicht
"Haben Sie das verloren?", Die Stewardess bückte sich und reichte mir den Brief van Dongerens. Verloren! Verloren! Was konnte in dem Stück Papier noch stehen, was mir van Dongeren, der Literatur-Agent New Yorks, nicht schon gesagt hatte?... Sie schreiben so leicht, wie Mendelssohn komponierte, aber...

New York lag noch immer wie ein unverdauter Brocken in meinem Magen, als wir uns bereits im Anflug auf Frankfurt/Main befanden. Ich schaute aus dem Kabinenfenster hinunter. In wenigen Minuten würden wir wieder im Zeitalter der Dienstleistungsgesellschaft landen, deren Leben sich in der Kreditlandschaft zwischen den Türmen der Wirtschaftswachstumsraten hauptsächlich am Bankschalter abspielt.

Dieser Vorgeschmack, mich womöglich noch einmal den Mechanismen einer bürgerlichen Existenz unterwerfen zu müssen, um wenigstens die Miete zahlen zu können, festigte meinen Entschluß, auch ohne Phall-Schirm den Sprung in die Unabhängigkeit zu wagen. Was wollte ich denn in meinem Leben? Soviel Wahrheit wie möglich begreifen. Soviel Freiheit wie möglich genießen. Das ermöglicht mir die Kunst. Denn Kunst ist, wie Picasso schon sagte, eine Lüge, die uns die Wahrheit erst begreifen läßt. Was sich auch einfacher anhört, als es sich schließlich malen bißt. Schreiben läßt. Okay, sagte ich, fälsche die Wirklichkeit und du wirst frei sein. Und frei sein heißt, die Freiheit zu haben - Freiheit nicht als Schlagwort von Politikern oder Werbetextern, sondern als Leben! — entscheiden zu können, was ich will. Male was, schreibe was, singe was, mache irgendetwas — nur: sei du selbst! Niemand hat damals laut gedacht: Jeder Mensch ist ein Künstler... oder: make the secrets productive! Beuys plätscherte noch in seiner Badewanne.

Und von hemmungsloser Subjektivität war ich wieder voller Hoffnung. Ich wußte, daß ich auf meinem Weg war. Ibiza und New York—das waren Meilensteine.

Entschlossen stieg ich die Gangway hinab. Und durch den offenen Kreis meiner unbewußten Wünsche bekam der Gedanke wieder Nahrung, ob malen denn nicht vielleicht einfacher wäre, das direkte Ins-Auge-fassen der Dinge. Beim Schreiben muß man immer alles im Kopf haben. Das erfordert eine ständige Konzentration. Das Geschriebene wird nur nacheinander sichtbar und löst sich wieder von dem bereits Gesagten — im Gegensatz zur Malerei. Da sieht man sich ständig dem gegenüber, was man gemalt hat. Der dargestellte Vorgang ist gleichzeitig sichtbar und man braucht nicht immer die ganze Erinnerung, die ständig etwas baut. Weiterbaut. Verbaut. Abbaut ...

In Frankfurt reichte es dann gerade noch zu einer Fahrkarte nach Hamburg, letzter Klasse, sozusagen. Ich rollte mich in meinem Coupé zusammen und schlief sofort ein. Als ich irgendwann einmal aufwachte, saß mir ein klassisch-schönes, männliches Gesicht gegenüber, das sich zu mir vorbeugte und sagte: "Könnten wir jetzt einen Tee trinken gehen? Der Speisewagen befindet sich in der Nähe..."

Die heitere Tiefsinnigkeit seiner Augen ließ auf einen geistreichen Mann schließen. So etwas trifft man nicht alle Tage. Meine Müdigkeit war schlagartig verflogen, denn einen besseren Zeitvertreib konnte ich mir kaum vorstellen, abgesehen einmal jetzt von Pferderennen. Aber die gehören wohl zu den Dingen, die in einem Eisenbahncoupe weniger gut ausführbar sind. Es war völlig klar: das Schicksal meinte es gut mit mir. "Worte", sagte mein Fremder, "Worte vermögen nie das Eindringen in Bewußtseins-Inhalte zu deuten, weil ein Gedanke im Augenblick seines Vollzuges schon nicht mehr besteht — Ursache vieler Unklarheiten unseres Ausdrucks, denn dieser kann immer nur eins sein: Interpretation, unsere? oder die des anderen? von etwas bereits Vollzogenem, Gedachtem..."

Und er setzte dazu in Klammern: ob es sich um Vor-oder Nachgedachtes handelt, ist von untergeordneter Bedeutung. Das war klar.

Worte waren es denn auch, die mich überzeugen sollten, daß ich allein es wäre, die die Symbiose von Haupt- und Nebenfrau sein könne. Frauen, geistig-erotisch verwandt, Geschöpfe seines Willens, seines Geistes, seiner Leidenschaft. Blind schien die ihn nicht gemacht zu haben, hatte er doch immerhin sofort gesehen. daß ich nicht die Dame ohne Unterleib bin oder die, die ihren Kopf zu Hause gelassen hatte. Er war, das traf sich günstig, Professor für Literatur. (Ich heftete mir dafür einen Stern an die Brust. Der entsprach mindestens der Nahkampfspange in Gold.) Auch seine beiden Damen — Schutzgeist der Arbeit und Schutzgeist der Freiheit — wüßten den Griffel zu führen. Geistiger Mangel würde also für die Zukunft kaum bestehen. Eher Konkurrenz.

Ich fand, daß es sich zumindestens interessant anhörte.

In Hamburg-Altona blieb der Zug stehen. Den Professor für Literatur an der einen Hand, den Koffer mit meinem ungedruckten "Félicien" in der anderen, stieg ich aus. So gesehen, kehrte ich nicht mit gänzlich leeren Händen an das Elbe-Ufer zurück. Als ich dann die alte Villa wieder betrat, die in einem wildwuchernden Garten langsam den Putz der Jahrhundertwende verlor, verlor auch New York seine Bitterkeit. Es war natürlich klar, daß ich noch einmal den Aufstand gegen das bürgerliche Brötchen proben wollte. Wenn schon nicht mit Literatur-Agenten, dann immerhin mit einem Literatur-Professor. Gründlicher ging es ja eigentlich nicht.

Es war dann ungefähr wie bei einem Rennen. Wie oft hatte ich schon einen Hengst nur aufgrund seiner blendenden Papierform auf Sieg gewettet, ohne ihn näher im Führring begutachtet zu haben. Sieht man dann näher hin, stellt man unerfreut fest, daß er bereits Nerven zeigt, nasse Flecken hat und überhaupt sehr unkonzentriert wirkt, worauf besonders das unregelmäßige Ohrenspiel hindeutet.

Unnachsichtig sah ich den Professor an. Und ich wußte, was ich sah. Ein so übernervöses Pferd ist meistens völlig außer Form. Auch wenn er beim Aufcantern plötzlich wieder die gewünschte Aktion zeigt und man noch einmal hofft: na ja, der macht das schon! — wenn der jetzt zügig in die Startbox geht, wird es schon klappen. Aber kaum an der Startmaschine, machte er wieder Firlefanz, tut so, als hätte er so ein Ding noch nie gesehen, verpulvert unsinnig sein Temperament, bis man ihn schließlich mit vereinten Kräften hineinschieben muß. Und ab geht die Reise! Das denkt man. Doch schon heim Start klappt er nach, versucht Anschluß zu finden, überpaced sich und fällt aus dem Rennen, wird nicht mehr weiter bemüht, wird angehalten. Der ganze Einsatz war umsonst.

Das fiel mir ein, als ich mich entschloß, auf eine schwache Vorstellung zu verzichten. Es ist möglich, daß ich mich irre, aber viel schlimmer hätte eine Lesung meiner ungeschminkten Gedanken auch nicht wirken können. Die Teilnehmer jedenfalls konnten ihre Sitzplätze wieder einnehmen, von denen sie heißblütig aufgesprungen waren. Natürlich verstand er das nicht. Mir war es, falls es sich nicht wiederholen würde, egal.

Der Professor hüstelte. Was wollte er noch?

"Eine zwischen-menschliche Beziehung hebt sich nicht durch Ausdruck, weniger noch durch das Mit-Einander auf", und er setzte wiederum in Klammern: die Frage der Aufhebung gehört in den Bereich der Dialektik, wäre hier also nur eine dialektische Abart, "vielmehr ist das Mit-Einander erst die Bedingung und Möglichkeit ihrer Existenz, die im vor-realen Bereich sich schon andeutete, in einer nicht angebbaren Dimension." In Klammern: wievielten?

Meine Kniee wurden kalt.

"Wie lange muß uns dieser Mann eigentlich noch ansehen?" fragte der Professor irritiert. Bei dem Wort - füher einmal für mich einzig die Konkretisier- ung eines Geschlechtszustandes — hob ich den Kopf Er meinte Georges. Alias Félicien. Félicien in seinen besten Tagen. Er hatte einen leicht ironischen Mund, wie immer, und eine unheimlich sture Pupille, wie es Photographien nun einmal so an sich haben. Ohne mit der Wimper zu zucken.

Der Professor hustete heftiger und wollte doch lieber an die Nordsee weiterreisen. Nun ja, Asthma ist kein Temperamentsausbruch, wie Félicien zu sagen pflegte. "Das eigentlich Erstaunliche ist Ihre, wie soll ich sagen, ja, Unantastbarkeit", leitete der Professor seinen Abgang ein. Seiner Haupt- wie seiner Nebenfrau offenbar doch stärker verhaftet als in einem Eisenbahncoupe notwendig, kämpfte er sich durch das Ilexdickicht des Gartens zurück wieder auf den rettenden Bürgersteig.

Beute hatte ich auf dieser Reise also nicht gemacht. Ich fing an, meine Koffer auszupacken. Mon cher Félicien machte es sich wieder auf dem Schreibtisch bequem, der inzwischen reichlich Staub angesetzt hatte. Irgendwo in einem der Schränke fand sich sogar eine von jenen Flaschen für besonders traurige Fälle. Ich schüttete mir ein Glas davon in die Kehle. So. Alles, was dir jetzt nur noch fehlen würde, wäre daß es klingelt und dein Hauswirt wieder einmal seinen Kopf launig zur Tür hereinsteckt: Wissen Sie eigentlich, daß Sie zwei Monate mit der Miete im Rückstand sind?

Es klingelte tatsächlich. Und ich war nicht sicher, wie lange schon. Ich begab mich zur Tür. Doch es war nicht mein Hauswirt Es war ein Herr aus besserem Hause. Nicht, daß ich meinte, er würde aussehen wie ein Chefarzt, Bankdirektor oder Konzernbesitzer. Er sah nur aus wie einer, mit dem ich vorübergehend schon einmal gefrühstückt hatte.

Es war Pascal.

Und Pascal war Verleger.

Und genau jetzt die richtige Kragenweite für die Tagediebin. Denn die beiden, die sich heftigst embrassierten, sollten noch länger das Vergnügen haben, miteinander, nun ja, zu frühstücken.

Wie heißt es doch bei Heine: "Das ist das Schöne bei uns Deutschen: keiner ist so verrückt, daß er nicht einen noch Verrückteren fände, der ihn versteht."

*S. 67-73
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin

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