Buchkritik -- Albrecht Müller -- Die Reformlüge

Umschlagfoto  -- Albrecht Müller  --  Die Reformlüge Die deutschen Medien überschlagen sich täglich mit immer neuen Horrormeldungen über den desolaten Zustand unseres Gemeinwesens. Die Staatsverschuldung steigt, Arbeitsplätze werden abgebaut, ganze Industriezweige brechen weg und überhaupt, die Zukunft sieht schlecht aus. Politiker und Wissenschaftler stimmen in diesen Chor mit ein und wiederholen im In- und Ausland die immer gleichen Sätze vom deutschen Reformstau und dem schwindenden wirtschaftlichen Potential unseres Landes. Die offiziell veröffentlichten Statistiken bestätigen scheinbar diese Aussagen und die veröffentlichte Meinung unserer Eliten stimmen ihnen unumwunden zu. Kein Tag vergeht, an dem nicht wieder ein neuer Vorschlag gemacht wird, wie man das Problem in den Griff bekommen könnte. Was wurde dem kritischen Bürger und damit der Minderheit in unserem Land, nicht schon alles zugemutet. Mehrarbeit ohne Lohnausgleich - dabei klagen nahezu alle Branchen unter zuwenig Absatz. Privatisierung staatlicher Dienste - den Staatsfinanzen hilft dies wenig, doch der Bürger muß dann dreimal soviel für die Leistungen bezahlen. Abbau von Subventionen - doch der Staat verschwendet durch fehlende Kontrolle oder falsche Planung Milliarden von Euro.

In diesen Zeiten der Verwirrung, in der nahezu jeder von Krise und Absturz spricht, in denen aus Hilf- und Ratlosigkeit sinnloser Aktionismus wird, kommt ein Autor, Albrecht Müller, zu dem Ergebnis, das zur Schwarzmalerei und zur Endzeitstimmung überhaupt kein Anlass besteht. Schon wieder eine Herausforderung für den kritischen Bürger. Ist das von ihm veröffentlichte Buch Die Reformlüge das Ergebnis von Realitätsverdrängung? Ist Müller ein Autor, der sich die Verhältnisse unseres Landes mit dem typischen debilen Lächeln von Ikea-Kunden anschaut? Oder lebt er noch in den seligen Zeiten der Vollbeschäftigung und des stetigen Wirtschaftswachstums? Schnell stellt sich dem Leser die Frage, ob er die Gedanken des Autors überhaupt ernst nehmen soll. Zu abweichend ist seine Meinung vom allseits zu jeder Zeit und in jede Kamera posaunten Mainstream unserer selbsternannten Eliten.

Albrecht Müller, das sei vorausgeschickt, ist kein übliches Leichtgewicht unter den politischen Beobachtern. Er ist studierter Nationalökonom und war Redenschreiber des ehemaligen Bundeswirtschaftsministers Karl Schiller. Von 1973 bis 1982 war er Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt bei Willy Brand und Helmut Schmidt, von 1987 bis 1994 Mitglied des Bundestages. Er ist also ein Mann, der die Fakten sehen kann, der es auch versteht Statistiken zu interpretieren und sich vor allem den Luxus einer eigenen Meinung leistet, die sich wohltuend vom veröffentlichten Gagagewäsch unterscheidet. Sein Fazit: Unser Land hat kein genuin wirtschaftliches Problem, sondern es mangelt am notwendigen politischen und wirtschaftlichen Sachverstand um die aktuelle Krise zu überwinden. So weit, so stark. Kann er seine Thesen auch beweisen? Der geneigte Leser kommt bei der Lektüre des Buches aus dem Staunen nicht heraus. Müller hat die notwendigen Argumente, die er geschickt mit offiziellen Statistiken untermauert. Folgende drei Beispiele sollen exemplarisch für die von den sog. Eliten veröffentlichten Denkfehler und Legenden genannt werden.

1. Die propagierte Dienstleistungsgesellschaft ist volkswirtschaftlich gesehen ein Mythos. Kein ernst zu nehmender Wirtschaftswissenschaftler wird behaupten, daß die Zunahme der im Dienstleistungssektor Beschäftigten das aktuelle wirtschaftliche Problem lösen kann. Zudem sind die in diesen Gewerben entstandenen Berufe hauptsächlich solche, die auf Minijob-Basis bestehen und aufgrund der niedrigen Abgaben die Gemeinschaft der Steuerzahler noch mehr belasten.

2. Die Besessenheit von steigenden Aktienkursen und die Meinung, daß die Höhenflüge der Aktien auch den Reichtum der Aktionäre steigern, hat sich spätestens mit dem Ende des "Neuen Marktes" als Trugschluß erwiesen. Das fiktive Geld von Kurssteigerungen hilft allenfalls gewieften Spekulanten. Die Anleger haben nach den Kurstürzen des "Neuen Marktes" Milliarden verloren. Zur Altersvorsorge dient diese Instrument auf keinen Fall.

3. Privatisierung als Schlagwort einer Klientel aus Neoliberalen und an Erschließung neuer Erwerbszweige interessierter Unternehmer soll die Lösung der staatlichen Finanznot sein. Ein Trugschluß, so Müller. Auf den Bürger kommen höhere Kosten, bei einem schlechter werdenden Angebot zu. Die Privatisierungshype in Großbritannien und ihre für den einzelnen Bürger negativen Auswirkungen sollten ein warnendes Beispiel sein

Der Autor hat in seinem Buch eine Fülle von Beispielen aufgeführt die zeigen, daß das Spektrum der aktuellen Diskussion unserer sog. Eliten von Hilflosigkeit bis Schwachsinn reicht. Er stellt außerdem einen starken Trend zum unbegründeten klagen über die politischen und wirtschaftlichen Zustände unseres Landes fest. Gerade bei deutschen Politikern und deutschen Managern ist diese Krankheit deutlich zu sehen. Ihre Aufgabe wäre es, so Müller, den Standort Deutschland und seine vorhandenen Stärken zu betonen. Leider geschieht das Gegenteil. Politische und wirtschaftliche Führer überbieten sich darin, unser Land schlecht zu machen.

Albrecht Müller sieht in all dem einen schnell sich nähernden Systemwechsel, der unter der Fahne einer permanenten Reform den bislang, auch in Krisenzeiten bewährten Sozialstaat bundesrepublikanischer Prägung aus den Angeln heben will, um einen wirtschaftlichen Liberalismus zu etablieren, der außer der Wirtschaft niemand von Nutzen ist. Im Gegenteil, es werden gesellschaftliche Strukturen zerstört und die Sicherheit und das Vertrauen des Einzelnen in den Staat untergraben.

Der Autor setzt dem aktuellen Gelaber von selbsternannten Experten und ihren Nachbetern in der Politik Fakten entgegen, die deutlich zeigen, daß einige der Probleme unseres Landes hausgemacht und nicht der Globalisierung geschuldet sind. So wurden z. B. die Sozial- und Rentenkassen im Rahmen der Wiedervereinigung gnadenlos geplündert. Die jährlichen Transferleistungen in die neuen Bundesländer belasten den Staatshaushalt ungemein. Diese Kosten werden von den neoliberalen Gesundbetern verschwiegen und alles nur dem angeblich zu teuren Sozialstaat zugeschrieben. Müller zählt in seinem Buch 40 Denkfehler auf, die er mit reichlich Faktenmaterial belegt. Die Regierung und alle diejenigen, die sich im aktuellen Mainstream wohl fühlen, bzw. sich Chancen erhoffen, wollen dem Bürger eine Reform verkaufen, die in Wirklichkeit eine grundlegende Veränderung unseres bisherigen, seit über 40 Jahren funktionierenden Systems darstellt. Alles läuft auf einen neoliberalen Paradigmenwechsel zu, der im Grunde nur Verlierer kennt. Erschreckend ist zudem der Haß, mit dem die ehemaligen Nutznießer unseres Systems auf eine Veränderung drängen. Diejenigen, die ihr Studium zum Nulltarif absolviert haben, denen die Berufswelt weit offen stand, die heutzutage in einflußreichen Positionen in Politik, Wirtschaft und Medien sitzen, sind jetzt maßgeblich am bevorstehenden Systemwechsel beteiligt.

Albrecht Müller hat absolut recht, wenn er behauptet, daß anstelle des politischen und wirtschaftlichen Sachverstands nur noch Inkompetenz und Opportunismus steht. Sein Buch ist so wunderbar gegen den herrschenden Zeitgeist geschrieben, daß es leider nicht viele Leser haben wird. Wem jedoch die ständigen Selbstinterviews in Talkshows und ähnlichen Sendungen zuwider sind, der kann auf die Lektüre dieses Buches nicht verzichten.




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