Buchkritik -- T. C. Boyle -- San Miguel

Umschlagfoto, T. C. Boyle, San Miguel, InKulturA Die kleine Pazifikinsel San Miguel vor der kalifornischen Küste ist der Schauplatz des neuen Romans von T. C. Boyle. Es ist die Geschichte von zwei Familien, die als Schafzüchter auf dieser Insel ihr Auskommen suchen. Der Autor verarbeitet geschickt historische Begebenheiten und verwebt diese mit literarischer Fiktion. Zwei Familien und zwei Epochen, daraus macht Boyle einen Roman, der wieder einmal die Ausnahmestellung dieses amerikanischen Schriftstellers unterstreicht.

Doch wer mit dem bisherigen Werk dieses Autors vertraut ist, muss sich an einen neuen Schreib- und Erzählstil gewöhnen. Im Gegensatz zu seinen bisherigen Erfolgen ist Boyle in diesem Roman geradezu versessen auf die Schilderung historisch belegter Fakten und verzichtet weitgehend auf seine bekannte Fabulierkunst. Ist das ein Manko? Beileibe nicht, denn San Miguel ist ein breit angelegter Roman über den amerikanischen Pioniergeist, der sich bis ins 20. Jahrhundert in das kollektive Bewusstsein der Menschen eingegraben hat und der immer noch von der Frage nach den individuellen Möglichkeiten des Lebensgestaltung geprägt ist.

San Miguel ist ein Roman, in dem Frauen die bestimmenden Faktoren sind. Zwei Familien, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, prägen das Buch. Da sind zum einen die beiden Frauen Marantha Waters und ihre Tochter Edith, die nur widerstrebend ihrem Ehemann und Stiefvater auf die Insel folgen und, zum anderen, 50 Jahre später Elise Lester, die mit ihrem Mann aus freien Stücken auf das kleine Eiland zieht und diesem Leben durchaus etwas abgewinnen kann.

Es ist eine kleine und abgelegene Welt, dieses San Miguel. Aus diesem Grund sind es die von T. C. Boyle erzählten fiktiven Dialoge, die Schilderungen der familiären Beziehungen, die individuellen Herausforderungen und persönliches Scheitern, die den Dreh- und Angelpunkt dieses Romans bilden. Marantha, bereits vor ihrem Umzug auf die Insel lebensgefährlich erkrankt, kann ihrem Mann keine große Hilfe sein. Ihre Tochter Edith fühlt sich nach anfänglicher Abenteuerlust mehr und mehr als Gefangene der Umstände und wird nach dem Tod ihrer Mutter alles daran setzen, diese Insel zu verlassen.

Für Elise Lester dagegen wird San Miguel zur Heimat und zusammen mit ihren Ehemann setzt sie alles daran, das gemeinsame Leben auf dieser Insel zu verbessern. Als sie nach einiger Zeit auch noch zwei Kinder zur Welt bringt, scheint das Glück perfekt zu sein.

Die Geschichte dieser zwei Familien ist natürlich ebenfalls ein Teil der amerikanischen Geschichte. Der Zweite Weltkrieg zeichnet seine Spuren auch auf dieser abgelegenen Insel, die nach dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor auf einmal ins Blickfeld der amerikanischen Marine gerät.

Das Leben auf der Insel ist hart. Daran ändert auch der technische Fortschritt nichts und so kommen die Lesters erst spät in den Genuss von elektrischem Strom. Abhängig von Wind, Wetter und Regen, immer ein Spielball der Naturgewalten, wird keine Familie Reichtümer erwerben. Doch abseits gesellschaftlicher Konventionen und Spielregeln gelingt Elise und ihrer Familie ein Leben, das heute bei manchem Zeitgenossen wohl etwas Wehmut wecken würde, angesichts der Einfachheit und der Beschränkung auf das Wesentliche.

San Miguel von T. C. Boyle ist ein großer Roman, dessen Stärke in dem ruhigen Fluss der Erzählung und der gelungenen Darstellung der so unterschiedlich empfindenden und handelnden Figuren besteht. Lesevergnügen pur.




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Veröffentlicht am 28. Dezember 2013