Port-au-Prince ist ein gefährliches Pflaster. Gefährlich für Menschen wie den Richter Raymond Berthier, der bei seiner Untersuchung des Todes eines jungen Mannes, der, wie es gern lapidar bezeichnet wird, sich zur falschen Zeit am falschen Ort befunden hatte, den Interessen und Zielen mächtiger, einflussreicher und kapitalstarker Kreisen zu nahe kommt.
In seinem letzten Brief an seine Frau, der auch als sein Testament verstanden werden kann, legt er dar, weshalb er nicht anders handeln konnte und sich nicht, im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, damit abfinden wollte, dass aus Recht Unrecht wird. Seine Tochter Brune ist am Boden zerstört und erst durch die Musik, sie ist Sängerin, gelingt es ihr, den Verlust zu verarbeiten.
Um sie herum hat die haitianische Schriftstellerin und Radiomoderatorin Yanick Lahens Figuren angesiedelt, die jeweils auf ihre eigene Weise versuchen auf die Situation in Haiti, wo anstelle des Gesetzes das Recht des Stärkeren gilt, zu reagieren.
Da ist Pierre, der homosexuelle Onkel von Brune, der mithilfe seiner langjährigen Freunde die Umstände des Todes seines Schwagers klären will und der darum weiß, wie schwer es jemand in diesem Land hat, der von der gesellschaftlichen Norm abweicht.
Cyprien Novilus, Brunes Liebhaber, ein ehemaliger Schüler von Raymond Berthier an der École de la Magistrature, ein angehender Anwalt und beschäftigt in einer großen lokalen Kanzlei. Ein junger und verführbarer Mann, mit einer Zukunftsvorstellung, zu deren Realisierung er bereit ist, weit, sehr weit zu gehen. Zum Schluss wechselt er die Seiten und, verführt durch die Aussicht auf Reichtum durch Korruption, schließt sich dem kleinen Kreis der Mächtigen an.
Einer aus diesem Kreis ist Sami Hamid, ein syrisch-sibanesischer Geschäftsmann, der zu allem bereit ist, um Geld zu verdienen. Mit Perfectly Dead und Jojo Piman Pike hat er zwei Auftragskiller, die er mithilfe von Anwälte und bestochenen Beamten vor der Strafverfolgung schützt. Er ist ebenfalls in die Ermordung von Richter Berthier verwickelt.
Ézéchiel, Student und Dichter ist davon überzeugt, dass nur Gewalt die politischen Verhältnisse auf Haiti verändert. Nerline, eine Frauenrechtlerin, und der Pazifist Waner dagegen halten sie für den falschen Weg.
Dann gibt es noch den französischen Journalisten Francis, der dieses Land zum ersten Mal besucht und, von seinem Freund Ronny begleitet, die Schattenseiten der haitianischen Gesellschaft kennenlernen wird.
Der Mord an Raymond Berthier ist der Fokus, den die Figuren, die sich in kurzen Kapiteln abwechseln und immer wieder zurückkehren, umkreisen. In all dem Chaos aus Gewalt, Instabilität und Not versuchen sie, nicht den Halt zu verlieren und tragen durch ihre Entscheidungen ironischerweise dazu bei, dass bezüglich gesellschaftlicher Veränderungen wenig Hoffnung besteht.
Yanick Lahens hat mit „Sanfte Debakel“ ein Panorama haitianischer Realität gezeichnet, die gekennzeichnet ist von Korruption, Komplizenschaft und des Rechts des Stärkeren. Gerechtigkeit ist hier keine Frage des Gesetzes, sondern die der gesellschaftlichen oder politischen Stellung.
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Veröffentlicht am 13: März 2021