Buchkritik -- Fabian Scherrer -- Die deutsche Sekunde

Umschlagfoto, Buchkritik, Fabian Scherrer, Die deutsche Sekunde, InKulturA Es ist der Augenblick der Wahrheit, der Moment, in dem klar wird, welche politische Position, welche Meinung mein Gegenüber vertritt. Politisch korrekter Mitläufer oder mündiger und kritischer Bürger. Realitätsverweigerer oder aufmerksamer Beobachter des angewandten politischen Irrsinns. Ein oder mehrere Augenaufschläge, auf keinen Fall länger und jeder Gesprächspartner weiß um die Einstellung des anderen.

„Die deutsche Sekunde“, so nennt Fabian Scherrer diesen Wimpernschlag, der über zukünftige Freunde oder Feinde, über den Fortgang oder das Ende einer Diskussion, manchmal leider wohl auch über das Ende einer Freundschaft entscheidet.

Doch der Reihe nach. Wer könnte einen besseren, einen ungetrübteren Blick auf die gesellschaftlichen und politischen Zustände eines Landes, dessen sukzessive Veränderungen letztendlich zu dramatischen Verwerfungen führen dürften, werfen, als jemand, der in einem Land aufgewachsen ist und sozialisiert wurde, das, bis auf die üblichen Leichen im Keller wohl jeder Nation, frei ist von historischer Schuld und der daraus folgenden, vermeintlich moralischen Verpflichtung, alle Übel der Welt zu bekämpfen.

Fabian Scherrer, geboren 1973, ist Schweizer und lebt seit 2003 in Berlin. Genug Zeit also, um sich mit dem deutschen Wahnsinn, der, wie in kaum einem anderen Land zwischen Neoliberalismus und politischer Korrektheit pendelt und, als wäre die Identität dieser Nation gefangen zwischen Skylla und Charybdis, zwischen der die Unterschiede menschlicher Existenzen negierenden Globalisierung, die das Individuum ausschließlich als kapitalistische Verfügungsmasse versteht und einer Hypermoral, welche längst die Politik erreicht hat und die das real Machbare durch eine, die Absolutheit für sich an Anspruch nehmende Attitüde ersetzt hat.

Der Autor ist keiner, der wild um sich schlägt, sondern, beruflich als Architekt tätig, an Fakten und weniger an Fiktionen orientiert. Sich selber eher politisch links verortend, stellt er im Verlauf seines Lebens in Berlin konsterniert fest, dass sein Weltbild ins Wanken gerät und seine einstmals klare politische Position zunehmend unter Beschuss gerät.

Immer unter Verweis auf die gesellschaftlich-politische Situation in der Schweiz und die daraus resultierende nationale Identität der Bürger – der Mann traut sich was! – vergleicht Fabian Scherrer das dortige und hiesige Verständnis von Demokratie und die Beteiligung der Schweizer Bürger an demokratischen Prozessen, die, sagen wir es deutlich, in der Bundesrepublik undenkbar wären.

Spätestens seit dem erfolgreichen Marsch der 68er durch die Institutionen und die Besetzung maßgeblicher und einflussreicher Positionen in Politik, Medien, Gewerkschaften, Stiftungen und anderen öffentlich-rechtlichen Einrichtungen hat sich in wenigen Jahren eine wie Mehltau über der Gesellschaft liegende Deutungshoheit politischer Begriffe angelagert, die aktuell, der Autor belegt dies mit vielen Beispielen aus seinem beruflichen und privaten Alltag, eine fatale Melange aus Hypermoral und Neoliberalismus bilden, die mit ihrer Ideologie einer Welt ohne Grenzen, ohne individuelle Unterschiede und der Förderung von Massenmigration direkt den Interessen derer in die Hände spielt, die unter dieser Fahne weniger die Menschen, sondern nur ihren Profit sehen.

Deutschland ist, so zeigt es der Autor mit seinen Schilderungen, anscheinend besonders empfänglich für diese Hypermoral, die inzwischen nüchternes politisches Handeln durch den stets erhobenen moralischen Finger ersetzt hat. Damit einhergehend, das gesellschaftliche und politische Klima vergiftend, gleichzeitig Diskussionen nahezu unmöglich machend und ein Gegenüber, das kritisch vom politisch erlaubten Diskurs abweicht und sein Recht auf freie Meinungsäußerung in Anspruch nimmt, ausgrenzt, teilweise kriminalisiert und immer öfter auch beruflich vernichtet, findet eine sukzessive Abschaffung der Demokratie statt.

Zerrissen zwischen Vergangenheitsbewältigung und dem daraus resultierenden Bedürfnis – vielleicht trifft es der Begriff Zwangshandlung besser – alle Übel, alle Not und allen Menschen auf der Welt zu helfen, sehr vielen davon innerhalb seiner Grenzen, taumelt Deutschland in einem Circulus vitiosus, der inzwischen dramatische Formen angenommen hat, weil er die Nation in einer beängstigen Weise und mit unabsehbaren Folgen spaltet.

Das, was einst Berlin für Fabian Scherrer so attraktiv gemacht und ihn bewogen hat, seinen Lebensmittelpunkt hier zu finden, die Lockerheit im Umgang mit Menschen alternativer Lebensformen, die Lust an Neuem, Toleranz und Akzeptanz gegenüber anderen Meinungen und die einstmals für Kreuzberg typische Art „Leben und leben lassen“ ist längst einem starren Verhaltenskodex gewichen, der unter dem Primat einer politischen Korrektheit steht, die, und das ist einer der Mechanismen aktueller gesellschaftlich-politischer Normierung, ausgerechnet im Namen der Toleranz die Intoleranz als Credo der neuen Zivilreligion betrachtet.

Es ist nicht zuletzt diese Intoleranz der sich stets tolerant gebenden Zeitgenossen, die die dringend notwendige gesellschaftliche Diskussion über den Zustand Deutschlands verhindert. So konstatiert der Autor vollkommen zu Recht die Medien, besonders aber die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, die weniger ihrem Informationsauftrag nachkommen, sondern sich in der Rolle von Propagandaapparaten gefallen.

Fabian Scherrer führt als Beispiel die im Jahr 2009 durch Volksabstimmung beschlossene Aufnahme eines Bauverbots von Minaretten in die schweizerische Bundesverfassung. Im Vorfeld dieser demokratischen Entscheidung wurde die Bevölkerung in den dortigen Medien umfassend und neutral über das Pro und Contra, über die verschiedenen Positionen und Meinungen, über Hintergründe und mögliche politische Implikationen berichtet, die wahlberechtigten Bürger also bei ihrer Entscheidungsfindung vollumfänglich informiert.

In Deutschland dagegen wurde die Initiative vom polit-medialen Kartell auf die Schlagwörter Islamophobie, Rassismus und Fremdenhass reduziert und dadurch eine nüchterne, der Sache dienliche Diskussion von vornherein verhindert. Diese Themenverengung und die daraus resultierende – und offiziell gewünschte – Diskussionsverhinderung ist, so stellt der Autor ernüchtert fest, ein wesentlicher Bestandteil deutscher Rundfunk- und Fernsehkultur. Meinungen, die vom politisch Erlaubten abweichen, dem öffentlichen Mainstream entgegenstehen, werden ausgeblendet. Wer also von Lückenpresse und Lügenäther spricht, dürfte so falsch nicht liegen.

Es findet eine dramatische gesellschaftliche (für jeden sichtbar in der Verrohung des öffentlichen Raums) und politische (Diskussions- und Denkverbote) Transformation Deutschlands statt. Während ein Teil der Bevölkerung sich selber im Sinn einer pervertierten politischen Korrektheit konditioniert, sich quasi freiwillig eine Portion kognitiver Dissonanz verordnet, werden Kritiker mit allen zur Verfügung stehen Mitteln und Methoden zum Schweigen gebracht.

„Die deutsche Sekunde“ ist die nüchterne Bestandsaufnahme einer sich im Abstieg befindenden Nation. Man kann dem Buch nur viele Leser wünschen. Leser, die nicht bereit sind, sich an dieser Selbstaufgabe zu beteiligen.




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Veröffentlicht am 28. Dezember 2019