Bilanz ziehen, die eigene Vergangenheit resümieren, all die verpassten Gelegenheiten des Lebens, die kurzen Momente scheinbaren Glücks, stets in Gefahr, durch sexuellen Eskapismus zerstört zu werden, die nicht wahrgenommenen Möglichkeiten und falschen Entscheidungen, die gegangenen Abzweigungen im Raum dessen, was hätte sein können, all das stürzt mit Wucht auf Florent-Claude ein, als er in Spanien zwei jungen und äußerst attraktiven Frauen beim Kontrollieren des Reifendrucks behilflich ist.
Was könnte man nicht alles anstellen mit den beiden, wäre man denn nicht durch die Einnahme des neuen Antidepressivum Captorix in seiner Libido eingeschränkt? Fast 50 Jahre alt ist der Mann, der seine irgendwie schwul wirkenden Vornamen hasst, die ihm seine Eltern, die Zeit ihres Lebens in inniger gegenseitiger Liebe zugetan waren, verpasst haben.
Er fühlt sich in seiner Welt, die kurz davor ist, alles zu reglementieren – das überall durchgesetzte Rauchverbot erbost ihn besonders – , die regionale und nationale Bindungen zugunsten anonymer globaler Mechanismen auflöst, nicht mehr wohl. Was anderes als die Rückschau bleibt einem „dirty old white man“ da übrig?
Und wo landet Mann dann unweigerlich? Bei den Frauen, die das Leben begleitet haben, die Mann jedoch aufgrund ungesteuerter Triebtätigkeit verloren hat, von ihnen verlassen wurde und die jetzt als Melancholie eines „was wäre wenn“ rückblickenden Konjunktivs wieder mit Macht an die Oberfläche verzweifelter Lebensbewältigung drängen. Wieder einmal pendelt Michel Houellebecq zwischen den Polen Heilige, Hure und Schlampe bezüglich seiner Frauenfiguren. Sein Protagonist hatte sie alle. Kate, die Reine. Claire, die Geile. Camille, die Naive und Yuzu, die Nymphomanin, der jeder, wirklich jeder Schwanz recht ist.
Doch nicht nur sein gestörtes Verhältnis zu Frauen macht Florent-Claude zu schaffen. Wenn schon in latenten Irrsinn umschlagendes Selbstmitleid, dann bitte auch in allen Bereichen der Existenz. Viele Jahre für das Landwirtschaftsministerium arbeitend, Gutachten und Pläne für die Entwicklung und Vermarktung regionaler Produkte erstellend, muss er spätestens beim Wiedersehen eines alten Studienfreundes, der als Landwirt einen Bauernhof bewirtschaftet feststellen, dass die Globalisierung mit fleißiger Unterstützung der EU, deren beider Mantra der ungehemmte Warenverkehr ist, sukzessive einen klassischen französischen Wirtschaftszweig vernichtet.
„Serotonin“ ist die Protokollierung seismischer Verwerfungen, die dabei sind nicht nur Europa, sondern die gesamte westliche Welt dramatisch zu verändern. Die Männer, es waren überwiegend Männer, die diese Zivilisation über Jahrhunderte aufgebaut, geprägt und gesteuert haben und die deren Werte und Ziele über den gesamten Globus exportiert haben, sind müde, sich weich und schlapp geworden. Wehrlos gegenüber neuen und aggressiv auftretenden Einflüssen, wie Universalismus, Freihandel, unbegrenzter Waren- und Menschenverkehr, sprich Austausch und Abschaffung jeglichen autochthonen Charakters, stellen sie auf einmal wie Florent-Claude fest „...ich war eindeutig nur ein Weichei, ein trauriges und unbedeutendes Weichei, das obendrein auch noch alt wurde.“
Er kann der am Horizont auftauchenden neuen Welt nichts abgewinnen und der um sich greifende Zeitgeist kann mit alten, schwachen und wehleidigen Männern wie ihm nichts mehr anfangen. Sie sind, der Vergangenheit huldigend, als Kerle noch Kerle und Frauen noch richtige Frauen waren, nutzlos geworden und so ist es nur logisch, dass sich Houellebecqs tragischer Held in ein Loch, genannt Einzimmerwohnung zurückzieht und die Wände mit alten Fotos dekoriert.
Der Kulturpessimismus den Michel Houellebecq in diesem Roman fast genussvoll zelebriert, provoziert geradezu Gegenwehr, denn so kann und darf europäische Geschichte nicht enden.
Meine Bewertung:
Veröffentlicht am 30. Januar 2019