Buchkritik -- Cormac McCarthy -- Stella Maris

Umschlagfoto, Buchkritik, Cormac McCarthy, Stella Maris, InKulturA „Stella Maris“, ein 240-seitiger Dialog, ein Gespräch zwischen Alicia und ihrem Arzt Robert Cohen, Psychiater im Stella Maris Hospital in Black River Falls, Wisconsin. Es ist das Jahr 1972 und für Alicia, 20 Jahre alt, ist es bereits ihr dritter Aufenthalt in dieser Einrichtung. Sie ist Doktorandin der Mathematik und schon früh galt sie als Wunderkind. Bei ihr liegt eine diagnostizierte paranoide Schizophrenie vor, die zu Halluzinationen und Selbstmordversuchen führt.

Über ihr Äußeres erfahren wir wenig („jüdische/kaukasische Frau – attraktiv, möglicherweise magersüchtig“), über ihr Innenleben, ihre Sicht der Welt aber viel durch ihre Worte, die wie ein endloser Strom aus Gesprächen, Theorien und Vermutungen aus ihr heraussprudeln. Ihre Persönlichkeit scheint wie ein sich immer drehendes Rad zu sein, verloren in dem Wirbel ihres Intellekts.

Alicia wird wie Bobby (Anklänge an den kurz zuvor vom Autor veröffentlichten Roman „Der Passagier“) von der Arbeit ihrer Eltern an der Atombombe verfolgt, doch Alicia bringt die intellektuellen Höhenflüge ihres Bruders auf ein Niveau, das in der zeitgenössischen Literatur eher selten ist. Allein auf einer Seite finden die Leserinnen und Leser Verweise auf Euler, die Bourbaki-Gruppe, Riemann und das fünfte Postulat von Euklid. Wohl dem Teil des Lesepublikums, das angesichts dieser Herausforderung auf der Höhe des Textes bleiben kann.

McCarthy hat in einem seiner seltenen Interviews seiner Faszination für Physik und zeitgenössische wissenschaftliche Belange Ausdruck verliehen, und, voilà, das leidenschaftliche Reden seiner Protagonistin spiegelt diese Interessen mit Sicherheit wider.

Das hat aber auch seine Tücken und der Parforceritt durch Namen und wissenschaftlichen Theorien unterstreicht auf alle Fälle Alicias intellektuelle Fähigkeiten, dürfte es aber im Gegenzug nicht wenigen Leserinnen und Lesern schwer machen, dem Text die Würdigung zukommen zu lassen, die er beansprucht.

Alicia besitzt einen brillanten Verstand und ist ebenfalls eine ausgezeichnete Selbstdiagnostikerin, die, bis auf medizinische Versorgung, niemand zu brauchen scheint. Schon gar nicht die Gesellschaft. Was für eine begnadete solipsistische Persönlichkeit.

Die Themen, die McCarthy seit seinen frühesten Schriften bewegen: Schweigen, Verdammnis und Endzeit, vermischen sich hier mit Psychologie, Mathematik, Physik und Quantenmechanik und, das sei noch einmal gesagt, verlangen viel vom Lesepublikum.

„Stella Maris“ ist kein Werk für das Nachtschränkchen, sondern erfordert einen hellwachen Verstand.




Meine Bewertung:Bewertung

Veröffentlicht am 20. Januar 2023