Buchkritik -- Aléa Torik -- Das Geräusch des Werdens

Umschlagfoto  -- Aléa Torik  --  Das Geräusch des Werdens "Mein Großvater stellte nicht einfach Schuhe her und reparierte sie im Bedarfsfall, wie der Schneider Hosen oder Jacken herstellte und reparierte oder der Tischler Tische und Stühle. Er fertigte Schuhe für den Lebensweg an, für die Strecke zwischen Geburt und Tod, die ein jeder in seiner Weise beschritt."

Es gibt Bücher, die man liest und die danach mehr oder weniger schnell aus dem persönlichen literarischen Langzeitgedächtnis verschwinden. Es gibt allerdings auch Bücher, und der Debutroman Das Geräusch des Werdens von Aléa Torik gehört auf alle Fälle dazu, die hinterlassen einen bleibenden Eindruck beim Leser. Die Autorin, 1983 in Siebenbürgen, Rumänien geborenen, erzählt in großartigen und einfühlsamen Bildern von der Sehnsucht nach Heimat, vom Bleiben, vom Weggehen und von der Suche nach dem richtigen Leben.

Marijan stammt aus dem kleinen Karpatendorf Mãrginime und stellt in einer Berliner Galerie zum ersten Mal seine Fotografien aus. Anlässlich dieser Vernissage ist das Publikum neugierig darauf, die ausgestellten Fotos des Künstlers zu sehen, denn Marijan ist seit seiner Jugend blind. Zur Eröffnung hält er eine Rede und diese einleitenden Worte bilden den inhaltlichen Rahmen dieses Romans.

In Mãrginime geht das Leben seinen seit Generationen gewohnten Gang. Hier war die Heimat, hier war der Ort, den man nicht hinterfragen musste. Der Punkt, an dem man geboren wurde, heiratete, Kinder bekam und auch starb. Diese Kontinuität wurde unterbrochen durch den Beginn einer neuen Ära. "Diese Harmonie wurde gestört, als man anfing, glücklich sein zu wollen." Der Einbruch der Moderne in die gelebten Strukturen des Dorfes bringt auch die Bewohner, besonders die jüngeren, dazu, ihre individuelle Verortung im Raum und in der Zeit zu überdenken.

Das Geräusch des Werdens ist eine Chronik von drei Generationen, deren letzte sich zum ersten Mal bewußt mit ihren Vorstellungen vom gelungenen Leben auseinandersetzen muss. Das Verharren in alten Strukturen, in bäuerlichen oder handwerklichen Berufen, in Aberglauben und unzureichender Schulbildung ist nicht mehr möglich. Je mehr sich das Umfeld wandelt, je größer der Einfluss eines bislang nicht bekannten Außen auf das kleine Dorf wirkt, desto größer werden die Spannungen in der kleinen Gemeinschaft.

Valentin ist der erste, der das Dorf verlässt. Sein Ziel ist Paris, doch bereits in Berlin ist für ihn, der nur die rumänische Sprache versteht, Endstation. Im irrtümlichen Glauben bereits in Paris zu sein, verlässt er den Zug und begegnet Liv, einer behüteten Tochter aus gutbürgerlichem Milieu, deren Zukunft bereits genau geplant war. Es war wohl Liebe auf den ersten Blick, die dazu geführt hat, dass beide, Valentin und Liv, ihren weiteren Lebensweg gemeinsam gegangen sind. Ihre Tochter Leonie verliebt sich in den blinden Fotografen Marijan und die Suche nach emotionaler und räumlicher Verortung scheint erneut zu beginnen.

Aléa Torik nimmt ihr Lesepublikum mit auf eine Reise, die sich von Rumänien bis nach Paris hinzieht, um endlich in Berlin einen zweiten Ort der Heimat zu finden. Es ist ein unverkrampfter Roman über die Bedeutung und den Wert von Heimat aber auch über die Notwendigkeit, diese Heimat einmal hinter sich lassen zu müssen, um sich auf die Suche nach dem "richtigen Leben" zu machen.

Doch wo das "richtige", das "wirkliche" Leben suchen? Liegt es im Bewusstsein darüber, dass das "Vorher" und das "Nachher" in einer harmonischen Beziehung zueinander stehen muss? Die Zwillingssöhne des Dorftischlers können aufgrund ihrer brüderlicher Dualität zwei verschiedene Lebensentwürfe realisieren. Einer bleibt im Dorf und übernimmt den väterlichen Handwerksbetrieb, der andere verlässt das Dorf und geht in die Stadt. Beiden bleibt die Erfüllung ihrer Sehnsüchte verwehrt.

Fortgehen um anzukommen. Sich verändern, um sich selber treu bleiben zu können. Darum geht es in diesem überaus bemerkenswerten Erstlingswerk von Aléa Torik. Mit einer erstaunlich wandelbaren Diktion schlüpft die Autorin in die unterschiedlichsten Charaktere des Romans. Zwischen der Ausdrucksweise der alten Lehrerin, die auch die erste Chronistin in diesem Roman darstellt, und der jungen Leonie liegen große sprachliche und kulturelle Unterschiede. Die Autorin beherrscht beide mit traumhafter Sicherheit. Überhaupt wird die Lust am Erzählen nur noch von der genauen und stimmungsvollen, niemals jedoch ins Sentimentale umschlagenden Beobachtung übertroffen.

Valentin kehrt am Schluss des Romans in sein Heimatdorf zurück. Für ihn schließt sich ein Kreis. Für Liv, die während ihrer Tätigkeit als Zahnärztin ihre eigene Mitte, ihre jugendlichen Träume und Ziele verloren zu haben scheint, beginnt ein neuer Kreis, denn sie folgt ihrem Mann nach Rumänien. Das individuelle Werden und der Mut dazu, immer auf dem Weg zu sein und trotzdem dabei nicht sich selbst aus dem Blick zu verlieren, ist ein großes und zeitloses Thema. Die Autorin hat es überaus gekonnt in eine sprachlich adäquate Form gegossen und wieder einmal gezeigt, dass heutzutage Schriftsteller und Schriftstellerinnen die Rolle der Philosophen eingenommen haben.

Träumen nicht auch wir von den richtigen Schuhen für unseren Lebensweg? Der Roman Das Geräusch des Werdens von Aléa Torik ist bereits jetzt eines der großen literarischen Ereignisse des Jahres.




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