Buchkritik -- Kettly Mars -- Vor dem Verdursten

Umschlagfoto, Kettly Mars, Vor dem Verdursten, InKulturA Fito Belmar, 55 Jahre alt, Architekt und Autor eines erfolgreichen Romans, führt augenscheinlich das typische Lebens eines Bürgers der haitianischen Mittelschicht. Beruflich und privat fest eingebunden im Kreis derjenigen, denen die Naturkatastrophe von 2010 weder die Existenz noch die materielle Sorglosigkeit nahm, ist er dennoch innerlich zerrissen. Seinen schriftstellerischen Bemühungen steht eine Schreibblockade entgegen, der er mit Alkohol und Sex mit Minderjährigen zu entkommen versucht.

Kettly Mars, diese außergewöhnliche Stimme der haitianischen Literatur, hat in ihrem neuen Roman "Vor dem Verdursten" zum ersten Mal einen Mann als erzählerische Hauptfigur gewählt. Fito gilt, zumindest vor seinen wenigen Freunden, als Mensch mit Prinzipien und zeichnet sich durch seine freiwillige Mitarbeit in einer NGO aus, die das Ziel hat, die Wohnsituation der von Erdbeben betroffenen Menschen zu verbessern.

Doch, die Autorin erzählt es mit drastischer Diktion, dieser Mann ist ein Monster, einer, dessen Leben durch die dunkelsten sexuellen Triebe bestimmt wird. Er ist ein Pädophiler, der seine sexuellen Bedürfnisse nur noch durch Geschlechtsverkehr mit jungen Mädchen befriedigen kann.

Fito leidet an seinen Neigungen, leidet wie das Land, dessen Infrastruktur auch Jahre nach dem Erdbeben immer noch nicht wiederhergestellt ist. Diese Zerrüttung ist die Stunde der Profiteure und Krisengewinnler, derjenigen, die die Not und das Leid anderer ausnutzen, um daraus Gewinn zu ziehen. So gibt es in den Notunterkünften, die die von der Katastrophe Betroffenen und von ihrer Regierung Alleingelassenen in Eigeninitiative errichteten, für zahlende Kunden Dienstleistungen aller Art - vornehmlich sexueller Natur.

In einer solchen, von der Autorin euphemistisch "Canaan" genannten und als "trockener, gottverlassener Ort" beschriebenen Ansiedlung, sucht auch Fito Belmar nach Erlösung und findet anstelle dessen nur Selbstverachtung. Dieser trostlose Ort ist nicht Kanaan, der biblische Ort der Verheißung und schon gar nicht das Gelobtes Land, sondern, wie es die Deutung aus der aramäischen Sprache erlaubt, der Ort der Gedemütigten und der Verstoßenen.

Auf diesem Markt der Verzweiflung treffen sich Opfer und Nutznießer. Die gemeinsame Währung ist die Verzweiflung der Armen und die Gier der bürgerlichen Ausbeuter. Der Preis ist die Zerstörung von Kindern, der jedoch durch den nie versiegenden Nachschub an "Frischfleisch" niedrig gehalten wird.

Erst durch die Begegnung mit Tatsumi, einer japanischen Professorin für frankophone Literatur gelingt des Fito, sich aus dem Teufelskreis zwischen pädophiler Neigung und Selbstekel zu befreien.

Kettly Mars hat mit "Vor dem Verdursten" wieder einen Roman über die Zerrissenheit dieses geschundenen und gequälten Landes geschrieben. Mit bewegender poetischer Metaphorik beschreibt sie die fast schon als masochistisch zu bezeichnenden innerhaitianischen Probleme, vor denen diese zerrissene Gesellschaft steht. Zumindest Fito Belmar wird sich daraus befreien können.




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